Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
doch er sagte lediglich: »Das ist eine der vierzig Regeln. Wenn du willst, dass andere dich anders behandeln, musst du zuerst dich selbst anders behandeln. Wer nicht lernt, sich ganz und aufrichtig selbst zu lieben, kann nicht geliebt werden. Doch wer es erreicht hat, muss dankbar sein für jeden Stein, den andere auf ihn werfen, denn es ist ein Zeichen dafür, dass du schon bald mit Rosen überschüttet wirst.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Wie kannst du andere beschuldigen, sie brächten dir keine Achtung entgegen, wenn du dich selbst für jeder Achtung unwürdig hältst?«
Mir verschlug es die Rede, und es war, als würde mir die Wirklichkeit entgleiten. Ich dachte an alle Männer, mit denen ich geschlafen hatte – wie sie rochen, wie ihre schwieligen Hände sich anfühlten, wie sie vor Lust stöhnten … Ich hatte erlebt, dass sich nette junge Burschen in Ungeheuer verwandelten und Ungeheuer in nette junge Burschen. Einmal hatte ich einen Freier gehabt, der die Huren immer bespuckte, wenn er mit ihnen schlief. »Dreckig«, sagte er und spuckte mir in den Mund und auf den ganzen Körper. »Du dreckige Hure.«
Und dieser Derwisch wollte mir weismachen, ich wäre sauberer als frisches Quellwasser. Es hatte etwas von einem geschmacklosen Witz; doch als ich mich zum Lachen zwang, drang kein Laut aus meiner Kehle, nur ein unterdrücktes Schluchzen.
»Die Vergangenheit ist ein Strudel. Wenn du zulässt, dass sie deine Gegenwart beherrscht, zieht sie dich hinab«, sagte Schams, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Die Zeit ist ein Truggebilde. Man muss den Augenblick leben. Alles andere ist nicht von Belang.«
Er zog ein seidenes Tüchlein aus der Innentasche seines Gewands. »Behalt es. Ein guter Mensch in Bagdad hat es mir geschenkt, aber du brauchst es mehr als ich. Es soll dich daran erinnern, dass dein Herz rein ist und du Gott in dir trägst.«
Mit diesen Worten ergriff der Derwisch seinen Stab, erhob sich und wandte sich zum Gehen. »Verlass das Bordell«, sagte er noch.
»Wie denn? Wohin soll ich denn gehen?«
»Das ist nicht die Frage.« Seine Augen glänzten. »Mach dir keine Gedanken über den Weg, sondern widme dich dem ersten Schritt. Er ist das Schwierigste, nur von dir hängt er ab. Sobald der erste Schritt getan ist, lass alles geschehen, wie es geschieht, dann wird sich der Rest ergeben. Schwimm nicht mit dem Strom – sei der Strom!«
Ich nickte. Ich brauchte nicht zu fragen – ich wusste, auch das war eine der vierzig Regeln.
SULEIMAN, DER SÄUFER
KONYA, 17. OKTOBER 1244
B evor es Mitternacht war, leerte ich mein letztes Glas und verließ die Schenke.
»Vergiss nicht, was ich gesagt habe«, warnte mich Hristos. »Hüte deine Zunge!«
Ich nickte. Ich schätzte mich glücklich, einen Freund zu haben, der sich um mich sorgte. Doch kaum trat ich hinaus auf die dunkle und leere Straße, überkam mich eine solche Erschöpfung, wie ich sie noch nie empfunden hatte. Ich hätte eine Flasche Wein mitnehmen sollen, sagte ich mir. Ich hätte einen Schluck vertragen können.
Während meine Stiefel auf dem rissigen Kopfsteinpflaster klapperten, dachte ich wieder an die Männer in Rumis Prozession. Die Erinnerung an ihre hasserfüllten Blicke tat weh. Nichts verachtete ich so sehr wie die Sittsamkeit. So oft schon hatten mich mustergültige, anständige Leute getadelt, dass es mir, wenn ich nur daran dachte, kalt den Rücken hinunterlief.
Diese Gedanken verfolgten mich, als ich in eine Seitengasse einbog. Wegen der hohen Bäume, die dort standen, war sie besonders dunkel. Obendrein versteckte sich plötzlich der Mond hinter einer Wolke und hüllte mich in undurchdringliche Schwärze, andernfalls hätte ich die zwei Wachleute bemerkt, die sich mir näherten.
»As-salamu alaikum«, schmetterte ich ihnen in viel zu fröhlichem Tonfall entgegen, um meine Angst zu verbergen.
Anstatt meinen Gruß zu erwidern, fragten mich die Männer, was ich zu so später Stunde auf der Straße zu suchen hätte.
»Ich gehe nur spazieren«, antwortete ich leise.
Wir standen einander gegenüber. Das Schweigen zwischen uns wurde nur von fernem Hundegebell unterbrochen. Der eine Mann machte einen Schritt auf mich zu und begann in der Luft zu schnuppern. »Hier stinkt es«, stieß er hervor.
»Ja, nach Wein«, bestätigte der andere.
Ich beschloss, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. »Nur keine Sorge, das ist ein rein symbolischer Geruch. Da wir Moslems nur symbolischen Wein trinken dürfen,
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