Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
lang habe ich in den vergangenen Wochen wachgelegen, habe seinen Atemzügen gelauscht, das sanfte Wispern des Lufthauchs auf meiner Haut gespürt und den tröstlichen Schlag seines Herzens im Ohr vernommen, nur um mir in Erinnerung zu bringen, dass er noch immer der ist, dessen Frau ich einst wurde.
Es wird vorübergehen, sage ich mir. Irgendwann wird Schams uns verlassen – schließlich ist er ein Wanderderwisch. Rumi aber wird bleiben, hier, bei mir. Er gehört in diese Stadt und zu seinen Schülern. Ich muss nur warten. Doch es fällt mir nicht leicht, geduldig zu sein, und von Tag zu Tag wird es mir schwerer. Wenn die Verzagtheit zu groß wird, versuche ich an die vergangenen Zeiten zu denken – vor allem an die Zeit, als Rumi mir allen Widrigkeiten zum Trotz zur Seite stand.
»Kira ist Christin. Selbst wenn sie zum Islam übertreten würde, wäre sie nie eine von uns«, hatten die Leute gelästert, als sie von unserer Hochzeit hörten. »Ein führender Gelehrter des Islam sollte keine Frau ehelichen, die nicht seinem Glauben anhängt.«
Doch Rumi scherte sich nicht darum, weder damals noch später. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein.
Anatolien ist ein Gemisch aus Religionen, Völkern und kulinarischen Spezialitäten. Wenn wir dieselben Speisen essen, dieselben traurigen Lieder singen, denselben Aberglauben teilen und nachts dieselben Träume träumen, sollten wir auch miteinander leben können! Ich kannte christliche Säuglinge mit moslemischen Namen und moslemische Säuglinge, die von christlichen Ammen gestillt wurden. In unserer Welt, die stets im Wandel begriffen ist, fließt und vermischt sich alles. Wenn es überhaupt eine Grenze zwischen Christentum und Islam gibt, dann muss sie viel durchlässiger sein, als die Gelehrten auf beiden Seiten denken.
Weil ich die Frau eines berühmten Gelehrten bin, erwarten die Leute, dass ich die Gelehrten hoch schätze, aber das tue ich nicht. Sie wissen viel, die Gelehrten, das ist wahr, aber ist es denn gut, viel zu wissen, wenn es um Dinge des Glaubens geht? Sie sprechen immer in so gewichtigen Worten, dass man kaum versteht, was sie sagen. Die moslemischen Gelehrten kritisieren das Christentum, weil es die Dreifaltigkeit anerkennt, und die christlichen Gelehrten tadeln den Islam, weil der Koran für ihn ein vollkommenes Buch ist. Das klingt, als lägen Welten zwischen diesen beiden Religionen. Aber wenn es ums Eigentliche geht, haben die gewöhnlichen Christen und die gewöhnlichen Moslems meiner Meinung nach mehr miteinander gemein als mit ihren eigenen Gelehrten.
Das Schwierigste für einen Moslem, der Christ werden will, sei es, die Dreieinigkeit anzuerkennen. Und für einen Christen, der zum Islam übertritt, sei es das Schwierigste, den Glauben an die Dreieinigkeit aufzugeben. Im Koran sagt Jesus: Ich bin ein Diener Gottes; Er hat mir das Buch gegeben und mich zu einem Propheten gemacht.
Mir fiel es nicht schwer, in Jesus einen Diener statt einen Sohn Gottes zu sehen. Viel schlimmer war es, von der Jungfrau Maria zu lassen. Ich habe es nie irgendwem erzählt, nicht einmal Rumi, aber manchmal sehne ich mich nach den sanften braunen Augen Marias. Stets schenkte ihr Blick mir Trost.
Und seit Schams-e Tabrizi hier ist, bin ich so traurig und verwirrt, dass mich mehr denn je nach Maria verlangt. Das Bedürfnis, zu ihr zu beten, brennt wie ein Fieber in meinen Adern und kehrt mit einer Macht zurück, die ich kaum niederringen kann. Dann verzehrt mich die Schuld, als verriete ich meinen neuen Glauben.
Von all dem weiß niemand, nicht einmal meine Nachbarin Safiya, meine Vertraute in allen anderen Dingen. Sie würde es nicht verstehen. Ich wünschte, ich könnte es meinem Mann erzählen, aber ich wüsste nicht, wie. Er ist so unnahbar, und ich habe Angst, ihn in noch größere Ferne zu treiben. Rumi war mein Ein und Alles. Jetzt ist er ein Fremder für mich. Ich wusste nicht, dass man mit einem Menschen unter demselben Dach leben, im selben Bett schlafen und dabei immer spüren kann, dass er im Grunde nicht da ist.
SCHAMS-E TABRIZI
KONYA, 12. JUNI 1245
B linder Glaubensbruder! Wenn du in jedem Ramadan im Namen Gottes fastest und zu jedem Opferfest ein Schaf oder eine Ziege hingibst, um deine Sünden zu sühnen, dein ganzes Leben lang danach strebst, die Pilgerfahrt nach Mekka zu unternehmen, und fünfmal am Tag auf dem Gebetsteppich kniest, bei all dem aber in deinem Herzen keinen Platz für die Liebe hast, warum machst du dir dann die ganze Mühe?
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