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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Es war ihre Art, Aziz um ein Foto zu bitten.
    Das Foto kam.
    Als Ella es betrachtete, dachte sie sofort, ohne je dort gewesen zu sein, dass es irgendwo in Fernost aufgenommen worden sein musste. Aziz war umringt von über einem Dutzend dunkelhaariger einheimischer Kinder unterschiedlichen Alters. Er trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose. Er war schlank, hatte eine scharf geschnittene Nase, hochliegende Wangenknochen und langes dunkles Haar, das ihm in Wellen auf die Schultern fiel. Seine Augen waren smaragdgrün; sie strahlten nicht nur Energie aus, sondern auch Mitgefühl. Er trug einen einzelnen Ohrring und eine Halskette, deren filigranen Anhänger Ella nicht genau erkennen konnte. Im Hintergrund lag ein silbrig glänzender, von hohem Gras umwachsener See, und in einer Ecke des Fotos zeichnete sich der Schatten von etwas oder jemandem außerhalb des Bildausschnitts ab.
    Während Ella den Mann auf dem Foto bis ins letzte Detail studierte, stieg in ihr das Gefühl auf, ihn von irgendwoher zu kennen. Es war absurd, aber sie hätte schwören können, ihn schon einmal gesehen zu haben.
    Und plötzlich wusste sie es.
    Schams-e Tabrizi besaß mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit Aziz Z. Zahara. Er sah genau so aus, wie Schams vor seiner Reise nach Konya zu Rumi im Manuskript beschrieben war. Ella fragte sich, ob Aziz das Äußere seiner Romanfigur absichtlich nach seiner eigenen Erscheinung gestaltet hatte. Wollte er, der Autor, seinen Protagonisten nach seinem Bild schaffen, so wie Gott die Menschen nach seinem Bilde geschaffen hatte?
    Doch vielleicht verhielt es sich auch anders. Vielleicht hatte ja der echte Schams-e Tabrizi genau so ausgesehen, wie er in dem Buch beschrieben war, was wiederum nur heißen konnte, dass zwischen den beiden Männern, die fast achthundert Jahre voneinander trennten, eine erstaunliche Ähnlichkeit bestand. War es denkbar, dass diese Ähnlichkeit weder vom Autor gestaltet noch ihm überhaupt bewusst war? Je angestrengter Ella über diesem Rätsel grübelte, umso überzeugter war sie, dass Schams-e Tabrizi und Aziz Z. Zahara auf eine Weise miteinander verbunden waren, die mehr war als eine simple literarische Spielerei.
    Die Entdeckung hatte zwei gänzlich unerwartete Auswirkungen auf sie. Erstens verspürte sie den Drang, Süße Blasphemie noch einmal zu lesen, jetzt aber mit einem anderen Blick – nicht auf den Inhalt fixiert, sondern auf der Suche nach dem in seiner Hauptfigur versteckten Autor, auf der Suche nach Aziz in Schams-e Tabrizi.
    Zweitens faszinierte sie Aziz’ Persönlichkeit nun noch mehr. Wer war er? Wie war sein Leben verlaufen? In einer früheren Mail hatte er berichtet, er sei Schotte, aber warum trug er dann einen östlichen Namen – Aziz? Hieß er wirklich so? Oder war das sein Sufi-Name? Und was bedeutete es eigentlich, ein Sufi zu sein?
    Und noch etwas beschäftigte sie: ein erstes, kaum merkliches Begehren – etwas, das sie schon so lange nicht mehr empfunden hatte, dass sie es erst nach einer kleinen Weile überhaupt erkannte. Doch es war nicht zu leugnen – ein Gefühl, so stark wie ungehorsam, und es ließ ihr keine Ruhe. Sie begehrte den Mann auf dem Foto, das wurde ihr jäh bewusst, und sie stellte sich vor, wie es wäre, ihn zu küssen.
    Sie fühlte sich überrumpelt; das Gefühl war ihr peinlich. Sie schaltete den Laptop so hastig aus, als bestünde die Gefahr, der Mann auf dem Foto würde sie sonst in sich hineinsaugen.

BAYBARS, DER KRIEGER
    KONYA, 10. JULI 1245
    B aybars, mein Sohn, mach nie den Fehler, irgendwem zu vertrauen!«, pflegt mein Onkel stets zu sagen. »Die Welt wird nämlich mit jedem Tag verderbter.« Nur im Goldenen Zeitalter sei es besser gewesen, behauptet er, damals, als der Prophet Mohammed, Friede sei auf ihm, das Sagen hatte. Seit seinem Tod sei alles schlechter geworden. Ich freilich bin der Meinung, dass es überall, wo mehr als zwei Leute zusammen sind, unweigerlich zum Kampf kommt. Schließlich gab es selbst zu Zeiten des Propheten jede Menge Feindseligkeit zwischen den Menschen. Krieg ist nun mal das Wesen des Lebens. Der Löwe frisst das Reh, und was von dem Kadaver übrig bleibt, verwandeln die Geier in blanke Knochen. Die Natur ist grausam. Ob an Land, auf dem Meer oder in der Luft – es gibt für ein jedes Wesen nur eine Art und Weise zu überleben, und die besteht darin, schlauer und stärker zu sein als sein schlimmster Feind. Wer leben will, muss kämpfen. So einfach ist das.
    Ja, man muss kämpfen.

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