Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
leiden. Wer aber ein tugendhaftes Leben geführt hat, gelangt ans andere Ende der Brücke und wird mit erlesenen Früchten, süßem Wasser und Jungfrauen belohnt. So stellen sie sich, kurz gesagt, das Jenseits vor. Und sind dabei so besessen von Grauen und Lohn, Flammen und Früchten, Engeln und Dämonen, dass sie in ihrer Begierde, in einer Zukunft anzulangen, die rechtfertigt, wer sie heute sind, gar nicht mehr an Gott denken! Kennen sie denn diese eine der vierzig Regeln nicht? Die Hölle besteht im Hier und Jetzt. Der Himmel ebenso. Hör auf, dich vor der Hölle zu fürchten oder vom Himmel zu träumen, denn beide sind schon jetzt in dir selbst. Immer wenn wir uns verlieben, fahren wir zum Himmel auf. Immer wenn wir uns in Hass, Neid oder Streit ergehen, stürzen wir geradewegs in die Flammen der Hölle. Das besagt die Regel Nummer fünfundzwanzig.
Gibt es eine schlimmere Hölle als die Qual, die ein Mensch erleidet, wenn sein Gewissen ihm sagt, dass er schreckliches Unrecht begangen hat? Frag diesen Menschen; er wird dir sagen, was die Hölle ist. Gibt es ein schöneres Paradies als die Wonne, die einen Menschen in den seltenen Augenblicken seines Lebens erfüllt, wenn die Riegel des Universums zurückgeschoben werden und er sich im Besitz aller Geheimnisse der Ewigkeit und ganz mit Gott vereint weiß? Frag diesen Menschen; er wird dir sagen, was der Himmel ist.
Warum sich so sehr um das Danach sorgen, um eine Zukunft, die es nur in unserer Vorstellung gibt, wenn wir doch nur in diesem Augenblick die Gegenwart wie das Nichtdasein Gottes in unserem Leben wahrhaft und ganz erleben können? Sufis sind weder von der Angst vor Höllenstrafe getrieben noch von dem Wunsch nach Belohnung im Himmel; sie lieben Gott, weil sie Ihn lieben, unverfälscht und einfach, rein und unabdingbar.
Die Liebe ist der Beweggrund. Die Liebe ist das Ziel.
Und wenn man Gott so sehr liebt, wenn man jedes einzelne Seiner Geschöpfe Seinetwegen und dank Seiner liebt, dann lösen sich die unwichtigen Einteilungen auf. Von da an kann es kein »Ich« mehr geben. Dann kommt man nur mehr einer Null gleich, die so groß ist, dass sie das ganze Sein bedeckt.
Vor einigen Tagen dachten Rumi und ich über diese Dinge nach. Da schloss er plötzlich die Augen und sagte:
»Ich bin nicht Christ, nicht Jude und nicht Moslem, nicht Hindu, Buddhist, Sufi oder Anhänger des Zen. Ich folge keiner Religion, keiner Kultur. Ich bin weder vom Osten noch vom Westen …
Mein Ort ist ortlos, Spur des Spurlosen.«
Rumi glaubt, er könne niemals ein Dichter sein. Aber in ihm steckt ein Dichter, und was für ein fabelhafter! Jetzt hat sich dieser Dichter offenbart.
Ja, Rumi hat recht. Er ist weder vom Osten noch vom Westen. Er gehört dem Königreich der Liebe an. Er gehört dem Geliebten.
ELLA
NORTHAMPTON, 12. JUNI 2008
B egeistert hatte Ella Süße Blasphemie zu Ende gelesen und schloss nun die Arbeit an dem Gutachten ab. Gern hätte sie den Roman in allen Einzelheiten mit Aziz besprochen, war aber professionell genug, es nicht zu tun. Das wäre vor Abgabe des Gutachtens nicht in Ordnung gewesen. Sie hatte Aziz nicht einmal erzählt, dass sie sich nach der Lektüre seines Romans eine Ausgabe von Rumis Gedichten gekauft hatte und inzwischen jeden Abend vor dem Schlafengehen mindestens zwei, drei davon las. Es war ihr wichtig, die Arbeit am Gutachten und den Austausch mit dem Autor getrennt zu halten. Doch dann verwischte ein Ereignis am 12. Juni die Trennlinie zwischen beidem für immer.
Bis dahin hatte Ella noch nie ein Foto von Aziz gesehen. Da es auf seiner Website keine Bilder von ihm gab, wusste sie nicht, wie er aussah. Anfangs war ihr die Korrespondenz mit einem gesichtslosen Mann wunderbar mysteriös erschienen. Doch nach und nach siegte die Neugier, und sie wollte endlich ein Bild vor Augen haben. Er selbst hatte sie nie um ein Foto gebeten, was sie sehr merkwürdig fand.
Ohne es groß anzukündigen, schickte sie ihm ein Foto von sich. Es zeigte sie mit ihrem Liebling Spirit auf der Veranda, in einem engen hellblauen Kleid, das ihre Kurven erahnen ließ. Sie lächelte – halb freudig, halb schmerzlich. Mit einer Hand hielt sie den Hund am Halsband fest, wie um ein wenig Kraft auf sich zu übertragen. Der Himmel über dem Haus war ein Flickenteppich aus Grau- und Violetttönen. Es gab bessere Bilder von ihr, aber dieses strahlte etwas Spirituelles, fast Überweltliches aus. Zumindest hoffte sie das. Sie verschickte es als Anhang. Dann wartete sie.
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