Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
unverrichteter Dinge in unser Dorf zurückgekehrt, hätte sich nicht in diesem Moment die junge Frau eingemischt. Sie nahm meine Hand und sagte: »Erzähl einfach die Wahrheit über dich. Dann wird alles gut, das verspreche ich dir.«
Etwas ruhiger wandte ich mich an Rumi. »Es wäre mir eine Ehre, mit dir den Koran zu studieren, Meister. Ich scheue nicht vor harter Arbeit zurück.«
Rumi strahlte. »Sehr gut, sehr gut«, murmelte er, stockte dann aber, als wäre ihm soeben eine unschöne Kleinigkeit eingefallen. »Allerdings bist du ein Mädchen. Selbst wenn wir mit Hingabe lernen und Fortschritte machen, wirst du ja doch bald heiraten und Kinder bekommen. Dann sind all die Jahre des Lernens vertan.«
Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Plötzlich war ich verzagt, fast schuldig fühlte ich mich. Auch mein Vater wirkte bekümmert, er starrte nur noch auf seine Schuhe. Da kam mir wieder die junge Frau zu Hilfe. »Sag ihm, seine Frau habe sich immer ein kleines Mädchen gewünscht und sähe es gerne, wenn er jetzt eines unterweise.«
Rumi lachte, als ich ihm die Botschaft übermittelte. »Ah, du warst also in meinem Haus und hast mit meiner Frau gesprochen. Ich kann dir jedoch versichern, dass Kira sich nie in meine Lehrtätigkeit einmischt.«
Langsam und traurig schüttelte die junge Frau den Kopf und flüsterte mir ins Ohr: »Sag ihm, dass du nicht von Kira, seiner zweiten Frau, gesprochen hast, sondern von Gevher, der Mutter seiner beiden Söhne.«
»Ich meinte Gevher«, sagte ich und sprach den Namen deutlich aus. »Die Mutter deiner beiden Söhne.«
Rumi erbleichte. »Gevher ist tot, liebes Kind. Aber was weißt du von meiner verstorbenen Frau? Ist das ein geschmackloser Scherz?«
Da schritt mein Vater ein. »Sie hat es bestimmt nicht böse gemeint, Meister. Kimya ist ein ernsthaftes Kind. Sie zeigt sich nie ohne Achtung gegenüber älteren Menschen.«
Ich begriff, dass ich um die Wahrheit nicht herumkommen würde. »Deine verstorbene Frau ist hier. Sie hält meine Hand und ermuntert mich zu sprechen. Sie hat dunkelbraune, mandelförmige Augen, hübsche Sommersprossen, und sie trägt ein langes gelbes Gewand …«
Ich verstummte, weil die junge Frau auf ihre Schuhe deutete. »Sie will, dass ich etwas über ihre Pantoffeln sage. Sie sind aus orangeroter Seide und mit roten Blümchen bestickt. Sie sind sehr schön.«
»Diese Pantoffeln habe ich ihr aus Damaskus mitgebracht«, sagte Rumi, und Tränen traten in seine Augen. »Sie hat sie geliebt.«
Dann fiel der Gelehrte in Schweigen. Er kratzte sich am Bart, und seine Miene war auf einmal ernst und verschlossen. Doch als er wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme sanft und freundlich, ohne einen Hauch von Düsterkeit.
»Jetzt verstehe ich, warum alle Menschen deine Tochter für begabt halten«, sagte er zu meinem Vater. »Gehen wir in mein Haus und sprechen wir beim Abendessen über ihre Zukunft! Sie wird bestimmt eine hervorragende Schülerin sein – besser als viele Knaben.«
Dann wandte Rumi sich an mich. »Würdest du Gevher das bitte mitteilen?«
»Das ist nicht nötig, Meister. Sie hat es gehört. Sie sagt, sie muss jetzt gehen. Aber sie sieht immer mit Liebe auf dich.«
Rumi lächelte gerührt und so auch mein Vater. Plötzlich war eine Leichtigkeit in der Luft, die ich zuvor nicht gespürt hatte. In diesem Augenblick wusste ich, dass meine Begegnung mit Rumi bedeutsame Folgen haben würde. Meiner Mutter war ich nie nah gewesen, aber wie um dies gutzumachen, schenkte Gott mir zwei Väter, meinen leiblichen und meinen Nennvater.
So kam ich vor acht Jahren in Rumis Haus, ein schüchternes, wissensdurstiges Kind. Kira war liebevoll und mitfühlend, mehr noch als meine eigene Mutter, und Rumis Söhne nahmen mich freundlich auf, vor allem sein Ältester, der mir im Lauf der Zeit ein großer Bruder wurde.
Die Worte des Einsiedlers bewahrheiteten sich. Sosehr ich meinen Vater und meine Geschwister auch vermisste, nie, nicht einen einzigen Moment lang, bereute ich es, nach Konya gegangen und in Rumis Familie gekommen zu sein. Viele glückliche Tage habe ich unter diesem Dach verbracht.
Bis Schams kam. Mit ihm änderte sich alles.
ELLA
NORTHAMPTON, 9. JUNI 2008
B is vor Kurzem hatte Ella das Alleinsein überhaupt nicht leiden können; jetzt genoss sie es geradezu. Konzentriert feilte sie an ihrem Gutachten über Süße Blasphemie und hatte Michelle gebeten, den Abgabetermin um eine Woche zu verschieben. Sie hätte es zwar geschafft,
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