Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
rechtzeitig fertig zu werden, aber sie wollte nicht. Die Arbeit lieferte ihr den Vorwand dafür, sich in die Welt ihrer Gedanken zurückzuziehen und diversen familiären Verpflichtungen sowie dem längst fälligen Gespräch mit ihrem Mann aus dem Weg zu gehen. In dieser Woche hatte sie zum ersten Mal den Fusion Cooking Club geschwänzt. Ihr war einfach nicht nach Kochen gewesen und auch nicht danach, in einer Phase der Unsicherheit, was ihr künftiges Leben betraf, mit fünfzehn Frauen in ähnlicher Lage zu plaudern. In letzter Minute hatte sie gesagt, sie sei krank.
Ihren Mailwechsel mit Aziz hielt sie – wie plötzlich so vieles – geheim. So wusste Aziz nicht, dass sie nun ein Gutachten über seinen Roman schrieb; die Literaturagentur wiederum wusste nicht, dass sie heimlich mit dem Autor des Buchs flirtete, das sie begutachten sollte. Und ihre Kinder und ihr Mann wussten weder, worum es in dem Roman ging, noch hatten sie die leiseste Ahnung, wer der Autor war und dass sie mit ihm flirtete. Innerhalb weniger Wochen hatte sie sich von einer Frau, deren Leben durchscheinend wie die Haut eines Neugeborenen war, zu einer in Geheimnissen und Lügen schwelgenden Frau entwickelt. Noch mehr als dieser Wandel erstaunte sie, dass sie all das nicht im mindesten beunruhigte. Zuversichtlich und geduldig wartete sie darauf, dass etwas von Bedeutung geschah. Diese irrationale Vorfreude trug nicht unwesentlich zum Zauber ihrer neuen Gemütslage bei, denn sie empfand sie, allen Geheimnissen zum Trotz, wirklich als zauberhaft.
Mit E-Mails war es inzwischen nicht mehr getan. Ella hatte Aziz als Erste angerufen, und seitdem telefonierten sie ungeachtet der fünf Stunden Zeitverschiebung fast täglich miteinander. Aziz hatte ihr gesagt, ihre Stimme klinge sanft und zerbrechlich. Wenn sie lache, plätschere ihr Lachen dahin, immer wieder kurz unterbrochen vom Atemholen, so als wisse sie nicht genau, wie lange sie noch lachen solle. Es sei das Lachen einer Frau, die nie gelernt habe, nichts auf das Urteil anderer zu geben.
»Vertrau dich dem Strom an«, sagte er. »Lass los.«
Doch der Strom erwies sich als reißend und unstet, denn in ihrer Familie ereignete sich gerade zu der Zeit sehr viel. Avi nahm jetzt Nachhilfestunden in Mathe, und Orly war wegen ihrer Essstörung in Therapie. An diesem Morgen hatte sie ein halbes Omelett gegessen – ihre erste richtige Mahlzeit seit Monaten –, und trotz der postwendend gestellten Frage, wie viele Kalorien darin enthalten seien, empfand Ella es als kleines Wunder, dass ihre Tochter danach nicht von Schuldgefühlen geplagt worden war und alles wieder erbrochen hatte, um sich selbst zu bestrafen. Und wie eine Bombe hatte Jeannettes Mitteilung eingeschlagen, sie habe mit Scott Schluss gemacht. Begründet hatte sie es lediglich damit, sie und er bräuchten Zeit für sich. Ella fragte sich, ob »Zeit« ein Codewort für eine neue Liebe sei, denn sowohl Jeannette als auch Scott hatten sofort jemand Neuen gefunden.
Das Tempo, in dem menschliche Beziehungen entstanden und wieder gelöst wurden, erstaunte Ella mehr denn je, aber sie war bemüht, nicht mehr über andere Leute zu urteilen. Wenn sie durch ihre Korrespondenz mit Aziz etwas gelernt hatte, dann die Tatsache, dass ihr die Kinder umso mehr erzählten, je ruhiger und gefasster sie blieb. Kaum hatte sie aufgehört, ihnen nachzulaufen, hatten sie aufgehört, vor ihr davonzurennen. Alles ging jetzt glatter über die Bühne und entsprach viel mehr ihren Vorstellungen als in den Zeiten, in denen sie unermüdlich versucht hatte zu helfen und alles in Ordnung zu bringen.
Und sie musste wirklich gar nichts dafür tun! Sie sah ihre Rolle in der Familie ganz einfach nicht mehr darin, alles zusammenzuhalten wie ein unsichtbares, aber wichtiges Band. Stattdessen schaute sie zu, ohne viele Worte zu verlieren. Sie ließ die Ereignisse und die Tage an sich vorbeiziehen, aber nicht kühl und gleichgültig, sondern mit spürbarem innerem Abstand. Sobald sie einsah, dass sie sich nicht mit Dingen belasten musste, die sie ohnehin nicht beeinflussen konnte, trat von innen ein anderes Selbst hervor – ein weiseres, ruhigeres und wesentlich vernünftigeres Selbst.
»Das fünfte Element!«, sagte sie sich mehrmals am Tag. »Lass die Leere in dir zu!«
Es dauerte nicht lange, bis ihr Mann bemerkte, dass etwas ganz Ella-Untypisches mit ihr vorging. Wollte er deshalb auf einmal mehr Zeit mit ihr verbringen? Er kam jetzt früher nach Hause, und Ella vermutete,
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