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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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»Wer ihn aus der Ferne betrachtet, erkennt nur einen Fluss. Wer aber in ihm schwimmt, der spürt vier Strömungen. Wie die unterschiedlichen Fischarten schwimmen manche von uns näher an der Oberfläche, während andere sich in der Tiefe aufhalten.«
    »Ich glaube, das verstehe ich nicht«, sagte ich, obwohl es mir langsam dämmerte.
    »Wer gern an der Oberfläche schwimmt, gibt sich mit der äußeren Bedeutung des Korans zufrieden. Das trifft auf viele Menschen zu. Sie nehmen die Suren zu wörtlich. Kein Wunder, dass sie beim Lesen einer Sure wie der Nisa zu dem Schluss kommen, dass die Männer höher geschätzt werden als die Frauen. Denn genau das ist es, was sie sehen wollen.«
    »Und was ist mit den anderen Strömungen?«
    Schams seufzte leise auf, und ich konnte nicht anders, als seinen Mund zu betrachten, der mir geheimnisvoll und einladend wie ein verborgener Garten erschien.
    »Es gibt noch drei andere Strömungen. Die zweite ist tiefer als die erste, aber immer noch nahe der Oberfläche. Je mehr das Bewusstsein sich weitet, umso besser versteht man den Koran. Doch damit das geschehen kann, muss man hineinspringen.«
    Während ich ihm lauschte, fühlte ich mich leer und zugleich erfüllt. »Was geschieht, wenn man hineinspringt?«, fragte ich ihn.
    »Die dritte Unterströmung ist Batini, die esoterische Lesart. Wer die Nisa mit offenem innerem Auge liest, erkennt, dass es in dieser Sure nicht um Frauen und Männer geht, sondern um Weiblichkeit und Männlichkeit. Und jeder Einzelne von uns, auch du und ich, hat, in unterschiedlichen Graden und Abstufungen, sowohl Weibliches als auch Männliches in sich. Nur wenn wir lernen, beides anzunehmen, erreichen wir das harmonische Einssein.«
    »Soll das heißen, dass ich etwas Männliches in mir habe?«
    »Aber ja, ganz gewiss. Und ich habe auch eine weibliche Seite.«
    Da musste ich lachen. »Und Rumi?«
    Auf Schams’ Gesicht erschien ein kleines Lächeln. »Jeder Mann trägt auch etwas Weibliches in sich.«
    »Sogar die richtig mannhaften Männer?«
    »Die ganz besonders, meine Liebe«, antwortete Schams so leise, als verriete er mir ein Geheimnis, und verzierte seine Worte mit einem Augenzwinkern.
    Ich verkniff es mir, draufloszukichern. Ich fühlte mich wie ein kleines Mädchen. Das kam davon, dass ich Schams so nah war. Er war ein seltsamer Mann mit einer merkwürdig verzaubernden Stimme. Seine Hände waren schlank und muskulös, und sein Blick erinnerte an einen Sonnenstrahl, der alles, worauf er fällt, kräftiger und lebendiger wirken lässt. Neben ihm spürte ich meine blühende Jugend, aber zugleich überkam mich ein mütterliches Gefühl und ich nahm den schweren, milchigen Geruch der Mutterschaft wahr. Ich wollte ihn beschützen. Wie und wovor, das wusste ich nicht.
    Schams legte mir die Hand auf die Schulter. Sein Gesicht kam meinem so nah, dass ich die Wärme seines Atems spürte. In seinen Augen lag auf einmal ein träumerischer Ausdruck. Er hielt mich fest mit seiner Berührung und streichelte meine Wangen. Seine Fingerspitzen waren warm wie eine Flamme. Ich war verwirrt. Dann strichen seine Finger zu meiner Unterlippe hinunter. Verdutzt und benommen schloss ich die Augen, und in meinem Bauch schoss eine Aufregung empor, wie ich sie noch nie im Leben empfunden hatte. Doch kaum hatte Schams meinen Mund berührt, zog er die Hand wieder fort.
    »Geh jetzt, liebe Kimya«, murmelte er, und mein Name klang wie ein trauriges Wort.
    Ich verließ den Raum. Mir war schwindelig, und meine Wangen glühten.
    Erst als ich wieder in meinem Zimmer war, auf meiner Schlafmatte lag, an die Decke starrte und mir vorstellte, wie es wäre, von Schams geküsst zu werden, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, ihn nach der vierten Unterströmung des Flusses zu fragen – nach der tiefsten Lesart des Koran. Worin bestand sie? Wie konnte man in diese Tiefe gelangen?
    Und was geschah mit denen, die hineinsprangen?

SULTAN WALAD
    KONYA, 4. SEPTEMBER 1245
    B ruderliebe für Aladdin habe ich von jeher empfunden, doch nie so sehr wie jetzt. Er, der Jüngere von uns beiden, besaß schon immer, schon als Kleinkind, ein hitziges Gemüt, aber in letzter Zeit ist er noch streitsüchtiger und reizbarer. Er zankt sich wegen jeder Kleinigkeit und ist so launisch, dass sogar die Kinder auf der Straße Angst bekommen, wenn er sich nähert. Schon jetzt, mit siebzehn, hat er vom vielen Stirnrunzeln und Blinzeln tiefe Falten rings um die Augen. Erst heute Morgen fiel mir eine neue Falte

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