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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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neben seinem Mund auf, die daher rührt, dass er die Lippen immer so fest zusammenpresst.
    Ich war gerade dabei, etwas auf ein Stück Schaflederpergament zu schreiben, als ich hinter mir etwas rumpeln hörte. Es war Aladdin, mit mürrisch verzogenem Mund. Weiß Gott, wie lange er schon so hinter mir gestanden und mich mit seinen braunen Augen angestarrt hatte! Er fragte mich, was ich da mache.
    »Ich schreibe einen alten Vortrag unseres Vaters ab«, antwortete ich. »Es ist besser, jede Rede in zweifacher Ausführung zu haben.«
    »Was soll daran gut sein?«, fragte Aladdin schnaubend. »Vater hält ja keine Vorträge und Predigten mehr. Und in der Madrasa lehrt er auch nicht mehr, falls dir das entgangen sein sollte. Siehst du denn nicht, dass er sich aller seiner Pflichten entledigt hat?«
    »Das ist nur vorübergehend so. Bald wird er wieder unterrichten.«
    »Du machst dir doch nur etwas vor! Merkst du nicht, dass unser Vater für nichts und niemanden mehr Zeit hat, außer für Schams? Ist doch sonderbar, oder? Der Mann bezeichnet sich als Wanderderwisch und hat in unserem Haus Wurzeln geschlagen!«
    Er lachte in sich hinein, wohl in der Erwartung, ich pflichtete ihm bei. Als ich aber schwieg, begann er im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass seine Augen zornig funkelten.
    »Die Leute reden schon«, fuhr Aladdin missmutig fort. »Alle fragen dasselbe, nämlich wie sich ein angesehener Gelehrter von einem Ketzer beeinflussen lassen kann. Der Ruf unseres Vaters schmilzt dahin wie Eis in der Sonne. Wenn er sich nicht bald zusammennimmt, findet er in dieser Stadt womöglich niemals wieder einen Schüler, weil ihn dann keiner mehr zum Lehrer haben will. Und man könnte es ihnen nicht einmal verdenken!«
    Ich legte das Pergament beiseite und sah meinen Bruder an. Im Grunde war er noch ein Knabe, obwohl aus jeder seiner Gesten und Mienen das heranrückende Mannesalter sprach. Er hatte sich stark verändert im letzten Jahr, und ich begann schon zu vermuten, dass er verliebt war. Um welches Mädchen es sich handelte, wusste ich allerdings nicht, und seine engen Freunde wollten mir nichts sagen.
    »Bruder, ich weiß, dass du Schams nicht magst, aber er ist Gast in unserem Haus, und wir müssen ihn achten. Hör nicht auf das, was die anderen sagen. Wir sollten aus dieser Mücke wirklich keinen Elefanten machen.«
    Ich bereute meinen bevormundenden Ton auf der Stelle. Aber es war zu spät. Aladdin ist so leicht entflammbar wie trockenes Holz.
    »Diese Mücke?«, fauchte er. »Du bezeichnest das Unheil, das über uns gekommen ist, als Mücke? Wie kann man nur so blind sein!«
    Ich holte ein weiteres Stück Pergament hervor und strich sacht über die feine Oberfläche. Es bereitete mir stets große Freude, die Worte meines Vaters zu vervielfältigen und mir vorzustellen, dass ich zu ihrem Fortleben beitrug. Noch nach hundert Jahren würden die Menschen die Vorträge meines Vaters nachlesen und sich dafür begeistern können. Bei dieser Übermittlung eine wenn auch noch so kleine Rolle zu spielen erfüllte mich mit Stolz.
    Aladdin stand noch immer griesgrämig neben mir und betrachtete mein Werk mit einem grüblerischen Blick voll Bitterkeit. Ganz kurz huschte so etwas wie Sehnsucht über seine Augen, und ich erkannte das Gesicht eines Jungen, der der Liebe seines Vaters bedurfte. Da wurde mir zu meinem Schrecken klar, dass sein Zorn in Wahrheit nicht Schams galt, sondern meinem Vater.
    Aladdin war auf meinen Vater wütend, weil der ihn nicht genug liebte, so wie er war. Mein Vater war zwar berühmt und angesehen, doch angesichts des Todes, der unsere Mutter in so zartem Alter ereilt hatte, war er vollkommen hilflos gewesen.
    »Es heißt, Schams habe unseren Vater verhext«, sagte Aladdin. »Die Leute behaupten, Schams sei von den Assassinen geschickt worden.«
    »Von den Assassinen? Das ist Unsinn!«
    Die Assassinen waren eine für ihre ausgeklügelten Tötungsarten und für ihren maßlosen Gebrauch von Giftstoffen berühmte Sekte. Sie hatten es auf einflussreiche Leute abgesehen, die sie in aller Öffentlichkeit ermordeten, um die Herzen der Menschen mit Furcht zu erfüllen. In Saladins Zelt hatten sie sogar einen vergifteten Kuchen und einen Zettel mit der Aufschrift »Wir haben dich in der Hand« zurückgelassen. Und Saladin, dieser große islamische Herrscher, der so tapfer gegen die christlichen Kreuzfahrer vorgegangen und Jerusalem zurückerobert hatte, hatte davor

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