Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
zurückgeschreckt, die Assassinen zu bekämpfen, und hatte lieber Frieden mit ihnen geschlossen. Wie kamen die Leute nur darauf, dass Schams etwas mit dieser Sekte von Verbrechern zu tun hatte?
Ich legte Aladdin die Hand auf die Schulter und zwang ihn, mich anzusehen. »Außerdem ist diese Sekte heute nicht mehr das, was sie einst war. Es ist von ihnen kaum mehr geblieben als der Name.«
Aladdin dachte kurz darüber nach. Dann sagte er: »Mag sein, aber ich habe gehört, dass drei dem Hassan Sabbah treu ergebene Befehlshaber die Festung Alamut verlassen und gelobt haben, überall Angst und Schrecken zu verbreiten. Und Schams, heißt es, sei ihr Anführer.«
Langsam verlor ich die Geduld. »Gott stehe mir bei! Kannst du mir vielleicht erklären, warum ein Assassine es darauf abgesehen haben sollte, unseren Vater umzubringen?«
»Weil sie einflussreiche Leute hassen und das Chaos lieben, deshalb«, erwiderte Aladdin. Er hatte sich so sehr in die Idee einer Verschwörung hineingesteigert, dass sich auf seinen Wangen rote Flecken zeigten.
Mir wurde klar, dass ich umsichtiger vorgehen musste. »Die Leute reden doch alles Mögliche daher«, sagte ich. »Solche schlimmen Gerüchte darf man nicht ernst nehmen. Befreie dich von diesen gehässigen Gedanken, sie vergiften dich nur!«
Aladdin ächzte empört, aber ich sprach weiter. »Du kannst Schams nicht leiden. Musst du auch nicht. Aber um deines Vaters willen solltest du ihm ein wenig Achtung entgegenbringen.«
Aladdin blickte mich verbittert und abschätzig an. Da erkannte ich, dass mein jüngerer Bruder nicht nur auf unseren Vater böse und auf Schams wütend war, sondern auch enttäuscht von mir. In meiner Wertschätzung für Schams sah er ein Zeichen der Schwäche. Vielleicht glaubte er, dass ich zu unterwürfig und rückgratlos war, um die Gunst meines Vaters zu erringen. Das war zwar nur eine Vermutung, aber es tat mir sehr weh.
Dennoch konnte ich ihm nicht böse sein, und wäre das einmal so, dann wäre mein Ärger schnell wieder verraucht. Er war mein kleiner Bruder. Für mich würde er immer der Junge sein, der den Katzen auf der Straße hinterherrannte, sich die Füße in Regenpfützen schmutzig machte und den lieben langen Tag Brot mit Joghurt aß. Ich konnte in seinem Gesicht einfach nichts anderes sehen als den Knaben, der er einmal gewesen war – ein bisschen füllig geraten und etwas zu klein für sein Alter – und der die Nachricht vom Tod seiner Mutter entgegengenommen hatte, ohne eine Träne zu vergießen. Er hatte damals nur auf seine Füße gestarrt, als schämte er sich mit einem Mal seiner Schuhe, und sich auf die Unterlippe gebissen, bis alle Farbe daraus verschwunden war. Kein Wort, kein Schluchzer war ihm über die Lippen gekommen. Ich wünschte, er hätte damals geweint.
»Weißt du noch, als du dich einmal mit den Nachbarskindern gestritten hattest und heulend und mit blutiger Nase nach Hause kamst – was hat deine Mutter da gesagt?«, fragte ich ihn.
Aladdins Augen wurden schmal, dann aber, als er sich erinnerte, weiteten sie sich. Er schwieg.
»Immer, wenn du auf jemanden wütend bist, sagte sie, sollst du das Gesicht desjenigen durch das Gesicht eines Menschen ersetzen, den du liebst. Hast du schon einmal versucht, Schams’ Gesicht durch das deiner Mutter zu ersetzen? Vielleicht würde dir dann plötzlich etwas an ihm gefallen.«
Ein flüchtiges Lächeln, das so hurtig vorbeizog wie eine Wolke im Wind, huschte über Aladdins Mund. Ich war erstaunt, wie weich sein Gesicht dadurch wurde.
»Ja, vielleicht«, sagte er, und in seiner Stimme schwang nicht der kleinste Ärger mehr mit.
Ich schmolz fast dahin. Weil ich nichts zu sagen wusste, umarmte ich meinen Bruder. Als er meine Umarmung erwiderte, wuchs meine Zuversicht, dass er ein Auskommen mit Schams finden und die Eintracht in unserem Haus bald wiederhergestellt sein würde.
In Anbetracht dessen, was später geschah, hätte mein Irrtum nicht größer sein können.
KIRA
KONYA, 22. OKTOBER 1245
B evor ich die Tür öffnete, hinter der Schams und Rumi sich die Köpfe heiß redeten über Gott weiß was, klopfte ich an, trat dann aber ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich brachte den beiden einen Teller mit Halva. Eigentlich spricht Schams kein Wort, wenn ich da bin, fast als zwänge ihn meine Anwesenheit zum Schweigen. Und über meine Kochkünste äußert er sich nie. Er isst ohnehin nur wenig. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es ihm eins ist, ob ich ihm köstliche
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