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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Speisen vorsetze oder nur trockenes Brot. Doch diesmal leuchteten seine Augen auf, als er von meinem Halva abbiss.
    »Es schmeckt köstlich, Kira. Wie hast du das gemacht?«
    Ich weiß nicht, was da in mich fuhr. Anstatt das Lob so anzunehmen, wie es gemeint war, hörte ich mich sagen: »Was soll die Frage? Auch wenn ich dir sagen würde, wie es geht, bekämst du es nicht hin.«
    Schams hielt den Blick auf mich geheftet und nickte kaum merklich, wie um mir zuzustimmen. Ich wartete auf eine Entgegnung, doch er blieb ruhig und schwieg.
    Kurz darauf verließ ich das Zimmer und kehrte in die Küche zurück. Für mich war der Zwischenfall Vergangenheit. Und wahrscheinlich hätte ich ihn ganz und gar vergessen, wäre nicht heute Morgen geschehen, was geschehen ist.
    Ich war in der Küche und schlug Butter, als plötzlich im Hof Stimmen ertönten. Ich lief hinaus. Mein Lebtag hatte ich noch nie etwas so Verrücktes gesehen. Überall standen wackelige Stapel aufeinandergetürmter Bücher, und selbst im Brunnen schwammen sie. Die zerflossene Tinte hatte das Brunnenwasser leuchtend blau gefärbt.
    Rumi stand reglos da, während Schams ein Buch von einem Stapel nahm – die gesammelten Gedichte von al-Mutanabbi –, es grimmig musterte und dann ins Wasser warf. Kaum war das Buch darin versunken, griff er schon nach dem nächsten. Diesmal hatte er Attars Buch der Geheimnisse in die Hand bekommen.
    Ich unterdrückte einen Schrei. Schams zerstörte eines nach dem anderen Rumis Lieblingsbücher! Als Nächstes landeten Die göttlichen Wissenschaften von Rumis Vater im Wasser. Da ich wusste, wie sehr Rumi seinen Vater verehrte und dieses alte Manuskript liebte, sah ich in der Erwartung, dass er gleich einen Wutanfall bekommen würde, zu ihm hinüber.
    Er aber hielt sich ein wenig abseits. Sein Gesicht war wachsbleich, und seine Hände zitterten. Nichts auf der Welt hätte als Erklärung getaugt für sein Schweigen. Der Mann, der mich einst getadelt hatte, weil ich seine Bücher abstauben wollte, sah jetzt zu, wie ein Wahnsinniger seine ganze Bibliothek zerstörte, und schwieg dazu. Das konnte nicht sein! Wenn Rumi nicht einschritt, würde ich es tun.
    »Was machst du da?«, fragte ich Schams. »Diese Bücher sind nicht vervielfältigt worden. Sie sind sehr wertvoll. Warum wirfst du sie ins Wasser? Hast du den Verstand verloren?«
    Anstatt zu antworten, wandte Schams den Kopf zu Rumi und fragte: »Ist das auch deine Ansicht?«
    Rumi schürzte die Lippen und lächelte matt, schwieg jedoch weiterhin.
    »Warum sagst du denn nichts?«, schrie ich meinen Mann an.
    Da trat Rumi zu mir, nahm meine Hand und drückte sie fest. »Bitte beruhige dich, Kira. Ich vertraue Schams.«
    Schams warf mir über die Schulter hinweg ganz gelassen einen selbstbewussten Blick zu, krempelte die Ärmel hoch und begann, die Bücher aus dem Wasser zu fischen. Zu meiner Verwunderung war jedes Buch, das er herausholte, knochentrocken.
    »Ist das Zauberei? Wie hast du das gemacht?«, fragte ich ihn.
    »Warum fragst du?«, erwiderte Schams. »Auch wenn ich dir sagen würde, wie es geht, bekämst du es nicht hin.«
    Da rannte ich zitternd vor Wut und mit den Tränen kämpfend in die Küche, die in letzter Zeit zu meinem Zufluchtsort geworden ist. Und dort, inmitten der Töpfe und Pfannen, zwischen aufgehäuften Kräutern und Gewürzen, setzte ich mich hin und weinte mir die Seele aus dem Leib.

RUMI
    KONYA, DEZEMBER 1245
    B is zum Morgengrauen dauerte es nicht mehr lang, als Schams und ich gemeinsam aus dem Haus gingen, um das Morgengebet unter freiem Himmel zu verrichten. Wir ritten eine Weile auf unseren Pferden dahin, streiften über Weiden und durch Täler, durchquerten eiskalte Bäche und genossen den Wind auf unseren Gesichtern. Die Vogelscheuchen in den Weizenfeldern grüßten mit gespenstischen Posen, und vor einem Bauernhof, an dem der Weg uns vorbeiführte, flatterte frisch gewaschene Wäsche heftig im Wind und wies in alle Richtungen des Halbdunkels.
    Auf dem Rückweg, noch außerhalb der Stadt, zog Schams die Zügel seines Pferdes an und deutete auf eine wuchtige Eiche. Wir ließen uns unter ihr nieder. Der Himmel über uns hatte sich in eine Vielzahl von Violetttönen gewandet. Schams breitete seinen Mantel auf dem Boden aus, und während von den Moscheen nah und fern zum Gebet gerufen wurde, beteten wir gemeinsam.
    »Als ich nach Konya kam, saß ich unter diesem Baum«, sagte Schams und lächelte über die ferne Erinnerung. Dann wurde er nachdenklich.

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