Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
die Sure, mit der ich immer die größte Mühe gehabt hatte. Wegen ihrer entmutigend strengen Vorschriften für die Belange der Frauen war es mir schwergefallen, die al-Nisa zu verstehen, und noch schwerer tat ich mich damit, sie mir zu eigen zu machen. Während ich so dastand und die ganze Sure einmal mehr las, kam ich plötzlich auf die Idee, mir Hilfe zu holen. Rumi ließ zwar unsere Stunden ausfallen, aber Fragen durfte ich ihm ja wohl noch stellen. Ich nahm meinen Koran und betrat Rumis Zimmer.
Dort traf ich jedoch zu meiner Überraschung nicht ihn, sondern Schams an, der, eine Gebetskette in der Hand, am Fenster saß. Das verglühende Licht der untergehenden Sonne liebkoste sein Gesicht. Er war so schön, dass ich den Blick abwenden musste.
»Entschuldige«, sagte ich hastig. »Ich wollte zu Maulana. Ich komme später wieder.«
»Warum so eilig? Bleib doch«, erwiderte Schams. »Du kamst offensichtlich mit einer Frage. Vielleicht kann ich dir helfen.«
Es gab keinen Grund, ihm die Frage vorzuenthalten. »Nun, es gibt da im Koran einen Vers, den ich nicht recht verstehe«, sagte ich vorsichtig.
Da begann Schams wie im Gespräch mit sich selbst zu murmeln. »Der Koran ist wie eine schüchterne Braut. Sie lüftet ihren Schleier nur, wenn sie sieht, dass der Betrachter ein weiches, mitfühlendes Herz hat.« Dann straffte er die Schultern und fragte: »Um welchen Vers handelt es sich?«
»Es geht um al-Nisa«, antwortete ich. »An mehreren Stellen heißt es, die Männer seien den Frauen überlegen. Es steht dort sogar, dass die Männer ihre Ehefrauen schlagen dürfen …«
»Tatsächlich?« Schams Tonfall war so übertrieben, dass ich nicht erkennen konnte, ob er es ernst meinte oder mich necken wollte. Nachdem er kurz geschwiegen hatte, zeigte sich auf einmal ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht, und er begann die Sure auswendig aufzusagen.
»Die Männer sind die Versorger der Frauen, weil Allah die einen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Vermögen geben; deshalb sind gute Frauen gehorsam und hüten das Ungesehene, wie Allah es gehütet hat; und diejenigen, von denen ihr Ungehorsam erwartet, sollt ihr ermahnen und allein lassen an ihren Schlafstätten und sie schlagen; wenn sie euch dann gehorchen, sucht nicht nach Gründen gegen sie. Allah ist hoch, groß.«
Als er zu Ende gesprochen hatte, schloss Schams die Augen und trug dieselbe Sure noch einmal vor, doch in einer anderen Übersetzung.
»Die Männer sind die Unterstützer der Frauen, denn Gott rüstet manche besser aus als andere und weil sie aus ihrem Reichtum geben (um für die Frauen zu sorgen). Deshalb sind tugendhafte Frauen gehorsam gegenüber Gott und hüten das Verborgene, wie Gott es gehütet hat. Mit Frauen aber, die ihr als gegen euch eingestellt empfindet, sollt ihr sanft reden; dann lasst sie allein im Bett (ohne sie zu belästigen) und teilt mit ihnen das Lager (wenn sie es wollen). Wenn sie sich euch öffnen, sucht nicht nach Vorwänden, um sie zu rügen. Gott ist erhaben und groß.«
»Erkennst du einen Unterschied?«, fragte Schams.
»Ja. Die Aussagen sind ganz unterschiedlich. Der erste Text klingt, als erlaube er verheirateten Männern, ihre Frauen zu schlagen, während im zweiten geraten wird, einfach wegzugehen. Das ist sehr wohl ein großer Unterschied. Wie kommt das?«
»Wie kommt das? Wie kommt das?«, wiederholte Schams, als ließe er sich die Frage auf der Zunge zergehen. »Sag mir, Kimya, bist du je in einem Fluss geschwommen?«
Ich dachte an meine Kindheit zurück und nickte. Ich sah die kalten, durststillenden Bäche des Taurus-Gebirges vor mir. Von dem kleinen Mädchen, das mit seiner Schwester und den Freundinnen viele glückliche Nachmittage an diesen Bächen verbracht hatte, war kaum etwas geblieben. Ich wandte den Kopf ab, denn ich wollte nicht, dass Schams die Tränen in meinen Augen sah.
»Wenn du den Fluss aus der Ferne betrachtest, Kimya, hältst du ihn vielleicht nur für einen einzigen Wasserlauf. Wenn du aber ins Wasser tauchst, erkennst du, dass da mehr als nur ein Fluss ist. Der Fluss verbirgt verschiedene Strömungen, die alle einträchtig miteinander und doch gänzlich voneinander getrennt dahinfließen.«
Mit diesen Worten trat Schams-e Tabrizi auf mich zu, hob mein Kinn mit zwei Fingern und zwang mich, in seine tiefen, dunklen, seelenvollen Augen zu blicken. Mir setzte das Herz aus. Ich konnte nicht einmal mehr atmen.
»Der Koran ist ein reißender Fluss«, sagte er.
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