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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Bilder und auf Hörensagen. Für sie ist Schams ein verschrobener Derwisch. Sein Gebaren finden sie absonderlich, bezichtigen ihn der Gotteslästerung und halten ihn für schlichtweg unberechenbar und unglaubwürdig. Für mich hingegen ist er der Inbegriff der Liebe, die das ganze Universum bewegt, sich bisweilen zurückzieht und alles zusammenhält, bisweilen aber schier zerbirst. Eine solche Begegnung hat man nur einmal im Leben. Einmal in achtunddreißig Jahren.
    Seit Schams in unser Leben trat, fragen mich die Leute, was an ihm so besonders sei. Ich kann ihnen darauf keine Antwort geben. Gerade sie würden es nicht verstehen, denn wer es versteht, würde ja die Frage nicht stellen.
    Dieses Dilemma erinnert mich an die Geschichte von Laila und Harun ar-Raschid, dem berühmten Kalifen der Abbasiden. Als ihm zu Ohren kam, dass sich der Beduinendichter Qais unsterblich in Laila verliebt und ihretwegen den Verstand verloren hatte, weshalb man ihn nun Madschnun – den Besessenen – nannte, wurde er sehr neugierig auf die Frau, die solches Elend verursacht hatte.
    Diese Laila muss ein besonderes Wesen sein, dachte er, und allen anderen Frauen weit überlegen. Vielleicht ist sie eine an Schönheit und Liebreiz unvergleichliche Zauberin.
    Gespannt und von Neugier getrieben unternahm er alles, um Lailas mit eigenen Augen ansichtig zu werden.
    Eines Tages wurde Laila schließlich in den Kalifenpalast gebracht. Als sie den Schleier abnahm, war Harun ar-Raschid tief enttäuscht. Laila war zwar nicht hässlich, nicht verkrüppelt und auch nicht alt. Aber sie war auch nicht sagenhaft schön. Sie war ein gewöhnlicher Mensch mit gewöhnlichen Bedürfnissen und einigen Fehlern – eine einfache Frau wie zahllose andere auch.
    Der Kalif machte kein Hehl aus seiner Ernüchterung. »Bist du es, nach der Madschnun so verrückt war? Du siehst aus wie jede andere. Was ist so besonders an dir?«
    Da lächelte Laila und sagte: »Ja, ich bin Laila, aber du bist nicht Madschnun. Du musst mich mit Madschnuns Augen betrachten. Nur dann kannst du das Mysterium, das man Liebe nennt, verstehen.«
    Wie soll ich dieses Mysterium meinen Freunden und Verwandten und meinen Schülern erklären? Wie soll ich ihnen verständlich machen, was das Besondere an Schams-e Tabrizi ist, wenn sie ihn dazu mit den Augen Madschnuns betrachten müssten?
    Kann man die Liebe überhaupt verstehen, ohne zuerst ein Liebender geworden zu sein?
    Die Liebe lässt sich nicht erklären, nur erleben.
    Die Liebe lässt sich nicht erklären, und doch erklärt sie alles.

KIMYA
    KONYA, 17. AUGUST 1245
    B egierig warte ich darauf, dass er mich ruft, aber Rumi fehlt für unser gemeinsames Studieren die Zeit. Sosehr ich seinen Unterricht auch vermisse und mich vernachlässigt fühle, böse bin ich ihm nicht. Vielleicht weil ich Rumi zu sehr liebe, um mich über ihn ärgern zu können. Vielleicht aber auch, weil ich besser als jeder andere verstehe, wie er sich fühlt, denn auch mich hat Schams-e Tabrizi, dieser reißende Strom, im tiefsten Inneren mit sich fortgetragen.
    Rumis Blick folgt Schams wie die Sonnenblume der Sonne. Ihre Liebe füreinander ist so offensichtlich und so groß, und was sie da haben, ist etwas so Seltenes, dass man in ihrer Gegenwart unweigerlich den Mut verliert, weil einem klar wird, dass ein so starkes Band dem eigenen Leben fehlt. Nicht jeder im Haus erträgt das, am allerwenigsten Aladdin. Schon oft habe ich ihn dabei ertappt, wie er Schams vernichtende Blicke zuwarf. Auch Kira ist beunruhigt, aber sie spricht nie darüber, und ich stelle keine Fragen. Wir sitzen alle auf einem Vulkan. Seltsamerweise scheint Schams-e Tabrizi, der doch schuld ist an diesen Spannungen, entweder nichts davon zu bemerken, oder es ist ihm einerlei.
    Einerseits empfinde ich Bitterkeit gegenüber Schams, weil er uns Rumi genommen hat. Andererseits würde ich ihn so gern besser kennenlernen. Mit diesen widerstreitenden Gefühlen quäle ich mich nun schon eine ganze Weile, aber heute, fürchte ich, habe ich mich verraten.
    Am späten Nachmittag nahm ich den Koran zur Hand, um für mich darin zu lesen. Rumi und ich hatten früher immer die Reihenfolge eingehalten, in der uns die Suren überliefert worden waren, aber jetzt, da mich niemand mehr anleitete und unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt war, fand ich es nicht schlimm, durcheinander zu lesen. Ich schlug irgendeine Seite auf und legte den Finger auf den ersten Vers. Und wie es der Zufall wollte, war es al-Nisa, genau

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