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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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sein Schwert ins Herz bohren wollte, hob der Ungläubige den Kopf und bespuckte ihn. Da ließ Ali das Schwert sinken, holte tief Luft und ging davon. Der Ungläubige war erstaunt. Er lief Ali nach und fragte ihn, warum er von ihm abgelassen habe.
    »Weil ich sehr wütend auf dich bin«, antwortete Ali.
    »Warum tötest du mich dann nicht?«, wollte der Ungläubige wissen. »Das verstehe ich nicht.«
    »Als du mir ins Gesicht gespuckt hast, wurde ich sehr zornig«, sagte Ali. »Mein Ich war verärgert und dürstete nach Rache. Wenn ich dich jetzt töte, folge ich meinem Ich, und das wäre ein großer Fehler.«
    Deshalb hatte Ali den Mann laufen lassen. Den Ungläubigen rührte das so sehr, dass er Alis Freund und Anhänger wurde und wenig später aus freien Stücken zum Islam übertrat.
    Ja, solche Geschichten erzählt er offenbar gern, dieser Schams-e Tabrizi. Und wie lautet seine Botschaft? Lasst euch von den Ungläubigen ins Gesicht spucken! Ich aber sage: Nur über meine Leiche! Ungläubig oder nicht, einem Baybars spuckt keiner ins Gesicht!

ELLA
    NORTHAMPTON, 13. JUNI 2008
    B in ich vielleicht verrückt, lieber Aziz? Denn ich muss dir eine Frage stellen: Bist du Schams?
    Oder andersherum? Ist Schams du?
    Von Herzen
    Ella
    Liebe Ella,
    Schams war derjenige, der den nur in Konya bekannten Geistlichen Rumi zum weltberühmten Dichter und Mystiker machte.
    Meister Samid hat mir oft gesagt: »Gut möglich, dass es in manchen Menschen eine Entsprechung zu Schams gibt, aber das eigentlich Wichtige ist: ›Wo sind die Rumis, die es erkennen?‹«
    Mit herzlichen Grüßen
    Aziz
    Lieber Aziz,
    wer ist Meister Samid?
    Herzlich
    Ella
    Geliebte Ella,
    das ist eine lange Geschichte. Willst du sie wirklich hören?
    Mit herzlichem Gruß
    Aziz
    Lieber Aziz,
    ich habe jede Menge Zeit.
    Alles Liebe
    Ella

RUMI
    KONYA, 2. AUGUST 1245
    B eträchtlichen Reichtum birgt dein Leben, es ist rund und ausgefüllt. Das denkst du zumindest. Bis einer kommt und dir bewusst macht, was dir all die Zeit gefehlt hat. Wie ein Spiegel, der mehr vom Abwesenden als vom Anwesenden zeigt, macht er die Leere in deiner Seele sichtbar – die Leere, die du nicht wahrnehmen wolltest. Dieser Mensch kann ein Geliebter sein, ein Freund oder ein spiritueller Meister. Manchmal ist es ein Kind, um das man sich kümmert. Stets geht es darum, die Seele zu finden, die die eigene Seele vollständig macht. Alle Propheten haben denselben Rat erteilt: Finde den, der dein Spiegel ist! Für mich ist dieser Spiegel Schams-e Tabrizi. Erst als er kam und mich zwang, in jeden Winkel meiner Seele zu schauen, blickte ich der grundlegenden Wahrheit über mich ins Gesicht und erkannte, dass ich nach außen hin zwar glücklich und erfolgreich war, im Innern aber unfroh und einsam.
    Es ist, als hätte man schon jahrelang ein persönliches Wörterbuch verfasst, in dem man zu jedem Begriff, der einem wichtig ist – »Wahrheit« zum Beispiel oder »Glück« oder »Schönheit« – eine Erklärung niederschreibt. An jedem Wendepunkt im Leben greift man zu diesem Wörterbuch, ohne dass man seine Voraussetzungen je angezweifelt hätte. Dann kommt eines Tages ein Fremder daher, schnappt sich dein wertvolles Wörterbuch und wirft es weg.
    »Du musst all deine Begriffe neu bestimmen«, sagt er. »Es ist an der Zeit, alles, was du weißt, neu zu lernen.«
    Und aus einem Grund, den dein Verstand nicht kennt, der deinem Herzen aber sofort einleuchtet, erhebst du keine Einwände und wirst nicht ärgerlich, sondern fügst dich mit Freude. Genau das hat Schams mit mir gemacht. Unsere Freundschaft hat mich so vieles gelehrt. Aber wichtiger ist, dass er mir beibrachte, alles, was ich wusste, zu verlernen.
    Wer einen Menschen so sehr liebt, erwartet, dass ringsum alle so empfinden, dass sie die Freude mit dir teilen und die Begeisterung. Und wenn das nicht geschieht, ist man erst überrascht und dann gekränkt, als wäre man verraten worden.
    Wie soll ich meiner Familie und meinen Freunden jemals begreiflich machen, was ich begriffen habe? Wie soll ich das Unbeschreibliche beschreiben? Schams ist mein Meer der Gnade und der Gunst. Er ist meine Sonne der Wahrheit und des Glaubens. Ich nenne ihn den König der Könige des Geistes. Er ist mein Lebensquell und meine hohe Zypresse, erhaben und immergrün. Seine Freundschaft ist wie die vierte Lesart des Koran – eine Reise, die nur im Inneren erfolgen und von außen nicht verstanden werden kann.
    Leider gründen die meisten Menschen ihre Urteile auf

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