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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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er mit den Leuten der Dörfer gesprochen hatte, erschien ihm sein armenisches Wort gekünstelt und geqält. Nun aber sprach nicht er – und dies gab ihm die große Ruhe –, sondern die Macht, die ihn hierhergeführt auf den langen Umwegen der Jahrhunderte und auf dem kurzen Umweg seines eigenen Lebens. Er lauschte mit Verwunderung dieser Kraft, die aus ihm so natürlich ihre Worte holte:
    »Ich habe nicht unter euch gelebt, meine Brüder und Schwestern … Es ist wahr … Ganz entfremdet war ich der Heimat und wußte nichts mehr von euch … Da hat mich aber, wohl um dieser Stunde willen, Gott aus den großen Städten des Westens hierhergeschickt in das alte Haus meines Großvaters … Und jetzt bin ich nicht mehr ein Halbfremder und Gast unter euch, denn ich werde dasselbe Schicksal haben wie ihr … Mit euch werde ich leben oder sterben … Die Behörde wird mich weniger verschonen als irgend einen anderen, ich weiß es … Meinesgleichen haßt und verfolgt sie mit größter Rachsucht … Wie ihr alle bin ich gezwungen, das Leben meiner Angehörigen zu verteidigen … Deshalb habe ich schon seit mehreren Wochen alle Möglichkeiten, die uns bleiben, genau durchforscht … Seht her, der ich anfangs mutlos war, nun bin ich es nicht mehr … Voll von Hoffnung bin ich … Wenn Gott uns hilft, werden wir nicht sterben … Ich spreche nicht als ein leichtsinniger Narr zu euch, sondern als ein Mann, der den Krieg erlebt hat, als Offizier …«
    Immer klarer bildete sich Wort um Wort. Die leidenschaftliche Arbeit der letzten Tage kam ihm zugute. Die Fülle wohlüberlegter Einzelfragen gab ihm immer mehr innere Festigkeit. Die Überlegenheit systematischen Denkens, wie er es in Europa gelernt hatte, hob ihn hoch über die dumpfen und ergebenen Häftlinge des Verhängnisses. Ein ähnlich spielerisches Machtgefühl hatte ihn in seiner Jugend beherrscht, wenn er bei Prüfungen auf eine Frage mit erschöpfendem Wissen zu antworten verstand, gleichsam wählerisch in diesem Wissen grabend. Er ging auf Arams verzweifelte Rede ein, ohne sie zu erwähnen: Den Saptiehs auf den Straßen und in den Häusern der Dörfer Trotz zu bieten, sei ein unsinniges Beginnen. In den ersten Stunden könne es vielleicht zu einem überraschenden Erfolg führen, desto sicherer aber ende es dann nicht mit einem raschen, sondern mit einem ausgedehnten Martertod, sowie mit der Vergewaltigung und Verschleppung der jungen Frauen. Er, Bagradian, sei ebenfalls für Verteidigung bis zum letzten Blutstropfen. Dafür aber gebe es bessere Plätze als das Tal und die Dörfer. Er wies mit der Hand in der Richtung des Musa Dagh, der sich hinter dem Hause aufbaute und mit seinen Kuppen übers Dach schaute, als nähme er teil an der großen Versammlung. Alle möchten sich der alten Geschichten erinnern, in denen der Damlajik den verfolgten Armeniersöhnen Zuflucht und Schutz geboten habe:
    »Um den Damlajik wirklich zu belagern und zu erobern, bedarf es einer großen Truppenmacht. Dschemal Pascha braucht seine Truppen gewiß zu einem andern Zweck, als um ein paar tausend Armenier auszuheben. Mit den Saptiehs werden wir aber leicht fertig. Den Berg zu verteidigen, genügen einige hundert entschlossene Männer und ebensoviele Gewehre. Diese Männer und diese Gewehre haben wir.«
    Er hob seine Hand wie zum Schwur:
    »Ich verpflichte mich hier vor euch, die Verteidigung so zu führen, daß unsere Frauen und Kinder länger vor dem Tode bewahrt bleiben als in der Verschickung. Wir können uns mehrere Wochen, ja Monate halten. Wer weiß, vielleicht gibt es Gott bis dahin, daß der Krieg zu Ende ist. Dann werden wohl auch wir erlöst sein. Wenn der Friede aber nicht kommt, so haben wir doch noch immer das Meer im Rücken. Zypern mit seinen englischen und französischen Kriegsschiffen ist nahe. Dürfen wir denn nicht hoffen, daß eines dieser Schiffe einmal an der Küste vorüberfährt und von unseren Hilferufen und Signalen erreicht wird? Sollte aber keiner dieser Glücksfälle eintreten, sollte Gott unseren Untergang beschlossen haben, so wird es zum Sterben immer noch Zeit genug sein. Und dann werden wir uns nicht selbst verachten müssen als wehrlose Hammel!«
    Die Wirkung dieser Rede war durchaus nicht klar. Es schien, als erwache die Menge jetzt zum erstenmal aus ihrer Lähmung zum vollen Bewußtsein des Schicksals. Gabriel glaubte anfangs, er sei entweder nicht verstanden worden, oder das Volk verwerfe seinen Plan mit Wutgeheul. Der feste Körper der

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