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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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freiem Felde verfaulen, ich nicht! Doch auch nicht leben will ich bleiben in einem der Deportationslager unter den ehrlosen Mördern und den ehrlosen Opfern, ich nicht! Wir Frauen wollen das alle nicht, nein, wir alle nicht!! Und wenn die Männer zu feig sind, so werden wir Weiber allein uns bewaffnen und auf den Musa Dagh ziehn … Mit Gabriel Bagradian!«
    Dieser fanatische Aufruf erregte einen Tumult, der den vorherigen weit übertraf. Es hatte den Anschein, als ob die Sinnberaubten im nächsten Augenblick die Messer ziehen und so dem Blutbad durch die Türken zuvorkommen würden. Schon wollten sich die Lehrer mit Schatakhian an der Spitze unter die Menge werfen, um die Streitenden zu trennen und im Notfall Polizeidienste zu leisten. Mit einem kleinen Wink rief sie Ter Haigasun zurück. Besser als alle Lehrer und Muchtars kannte er sein Volk. Dieser Ausbruch war kein Streit. Leere Erregung. Das Bewußtsein der Tausende, das mit dem Austreibungsbefehl noch nicht fertig geworden war, mußte jetzt die schallenden Worte der Redner langsam aufsaugen. Ein Blick des Priesters sagte: Laßt sie nur. Geduldig sah er dem Tumult zu, in dem die Frauenstimmen, durch Antaram aufgestachelt, immer mehr die Oberhand gewannen. Er verhinderte es auch, daß andre Redner, die sich meldeten, wie zum Beispiel Oskanian, der Lehrer, das Wort nahmen. Er hatte recht damit. Der Lärm, dem keine Nahrung mehr zugeworfen wurde, brach schneller zusammen als man hätte meinen sollen. Nach einigen Minuten war er in sich selbst erstickt und nur Murren und Schluchzen blieb übrig. Jetzt war der Augenblick für Ter Haigasun gekommen, um mit schlagfertiger Knappheit eine rasche Klärung und Entwicklung der Dinge herbeizuführen. Er machte mit der Rechten ein begütigendes Zeichen:
    »Es ist doch alles ganz einfach«, sagte er ohne Stimmaufwand, doch jede Silbe scharf absetzend, damit sie sich in den dumpfen Verstand der Masse einbohrte: »Zwei Vorschläge sind gemacht worden. Sie schreiben uns die beiden einzigen Wege vor, die wir gehen können. Andre Wege als diese beiden gibt es für uns nicht. Der eine, Pastor Nokhudians Weg, führt mit den Saptiehs nach Osten, der andre, Gabriel Bagradians Weg, führt mit unseren eigenen Waffen auf den Damlajik. Jedem von euch steht es völlig frei, den seinen zu wählen, wie es ihm Verstand und Wille vorschreibt. Zu reden gibt es darüber nichts mehr, denn alles Richtige ist schon gesagt worden. Ich will euch die Entscheidung sehr einfach machen. Pastor Harutiun Nokhudian wird die Güte haben, sich dort auf den freien Hof jenseits der Hanfschnur hinzustellen. Wer die Ansicht des Pastors teilt, wer in die Verbannung gehn will, der möge zu ihm treten. Wer aber auf Seite Gabriel Bagradians ist, der soll dort stehen bleiben, wo er steht. Niemand beeile sich! Wir haben Zeit.«
    Tiefe Stille plötzlich. Nur Frau Nokhudians schnelles, fast bellendes Weinen war hörbar. Der alte Pastor senkte den Kopf unter dem runden Käppchen. Eine schwere Gedankenlast schien seinen Oberkörper niederzubeugen und zu Boden zu ziehen. In dieser Denk-Haltung verblieb er sehr lange. Dann begannen sich seine Beine zu regen. Er stapfte mit kleinem zögerndem Tritt zu der Stelle, die Ter Haigasun ihm bezeichnet hatte. Die Hanfschnur hob er mit ungeschickter Geste über den Kopf. Der Wirtschaftshof erstreckte sich fast bis zur Villa. Nur ein Rasenstück mit einer Wand von Magnoliensträuchern lag dazwischen. Der große Hof war völlig menschenleer. Nicht nur die Dienerschaft des Hauses, auch die Stall-Leute drängten sich in der Versammlung. Nokhudians kurze Beinchen kosteten den Weg der Entscheidung voll aus, sie brauchten eine ganze Weile, bis die Magnolienbüsche erreicht waren, wo er, mit dem Rücken zur Menge, Aufstellung nahm. Die vom Weinen geschüttelte Frau folgte. Wiederum eine noch länger gedehnte und noch hohlere Frist, in der kein Wort fiel. Dann erst lösten sich ein paar Menschen aus dem Kern der Menge, drängten sich durch und traten, den Zwischenraum mit demselben zaghaft versonnenen Schritt durchmessend, hinter Pastor Nokhudian. Erst waren es nur wenige, die Ältesten der protestantischen Gemeinde von Bitias mit ihren Frauen. Mit der Zeit aber wurden es immer mehr, die sich für die Verbannung entschieden, bis der Pastor am Ende fast seine ganze Herde beisammen hatte, Junge und Alte. Dieser schlossen sich überdies noch einige Personen aus den anderen Dörfern an; doch das waren ausschließlich alte und beladene Leute,

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