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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Masse fuhr auseinander. Frauen kreischten. Heisere Männerflüche hämmerten gegeneinander. Ein wogendes Hin und Her. Wo waren die gottergebenen, gramverrunzelten Bauerngesichter, wo der Schleier der Totenstille über ihnen? Ein wüster Streit schien anzuheben. Die Männer fuhren gegeneinander los, sie schrien und zerrten sich an den Gewändern, ja an den Bärten. Doch dies war weniger ein Meinungsstreit als eine tolle Entladung, eine Zersprengung des ohnmächtigen Todeswissens, die das erste Wort der Zuversicht und Energie ausgelöst hatte.
    Wie? Unter all diesen Tausenden, die jetzt in ihrer entfesselten Verzweiflung durcheinanderschrien, gab es keinen, der denselben, so einfachen Gedanken in der langen Wartefrist gefaßt hatte? Einen Gedanken, der durch alte Überlieferungen so nahe lag? Mußte erst ein Fremder, ein Herr aus Europa kommen, um ihn auszusprechen? Nun, denselben Gedanken hatte unter diesen Tausenden so mancher gefaßt, doch nur wie eine untaugliche Träumerei. Auch in der heimlichsten Zwiesprache war er über keine Lippe gedrungen. Bis vor wenigen Stunden noch hatten sie sich in ihrer künstlichen Schlaftrunkenheit vorgefabelt, das große Schicksal werde gerade am Musa Dagh mit eingezogenen Krallen vorüberschleichen. Und dann, wer waren sie? Arme, verlassene Dörfler, ein ausgesetzter Stamm auf bedrängter Insel, ohne eine Stadt im Rücken. In Antiochia gab es nicht eben viele Armenier, und das waren Geldwechsler, Bazarhändler, Getreidespekulanten, demnach nicht die rechten Empörer und Kampfhelfer. In Alexandrette wiederum lebte nur eine kleine Schar von Ganz-Reichen, von Bankiers und Kriegslieferanten in prunkvollen Villen, ähnlich wie in Beirût. Diese angstgepeitschten Geldmagnaten dachten gar nicht an das kleine Bergvolk des Musa Dagh. Unter ihnen befand sich kein Mann vom Wuchse Awetis Bagradians, des Alten. Sie schlossen die Fensterläden ihrer Villen und verkrochen sich in die finstersten Winkel. Zwei oder drei waren, um Leben und Vermögen zu retten, zum Islam übergetreten und hatten sich dem stumpfen Beschneidungsmesser des Mollah dargeboten. Oh, die Leute oben, dort weit im Nordosten, die Bürger von Wan und Urfa, die hatten es leicht. Wan und Urfa, das waren große armenische Städte, voll von Waffen und uraltem Trotz. Köpfe gab es da, die Abgeordneten der Daschnakzagans. Sie konnten das Volk führen. Dort war es leicht, an Widerstand zu denken und ihn zu organisieren. Wer aber durfte in dem armseligen Yoghonoluk so frevelhaft denken? Widerstand gegen die Staats- und Militärgewalt? Jeder, der hier geboren war und lebte, trug für diesen Staat, den alten Erbfeind, eine mit Grauen vermischte Ehrfurcht im Blut. Staat, das war der Saptieh, der einen ohne Grund schlagen und in Haft nehmen durfte, Staat, das war der Steuerbeamte und -pächter, der in die Häuser einbrach und raubte, was ihm geeignet schien. Staat, das war die schmutzige Kanzlei mit dem Sultanbild, den Koransprüchen und dem vollgespuckten Estrich, wo man Bedel entrichtete, Staat, das war die Kaserne mit dem öden Hof, wo man als Soldat dienen mußte, wo der Tschausch oder Onbaschi Faustschläge austeilte und für den Armenier-Sohn eine eigene Bastonade vorrätig war. Und trotz alledem: das hündische Gefühl der Angst und Ergebenheit gegen diesen wohlwollenden Staat wurde auch der Armenier-Sohn nicht los. So war es denn mehr als verständlich, daß, abgesehen von Pastor Tomasians kopflosem Ausbruch, kein Einheimischer, sondern ein Fremder, ein Freigelassener, den ersten planvollen Gedanken der Selbstverteidigung unter die Menge warf. Denn nur dieser Freigelassene besaß die nötige Unschuld, den Gedanken auch auszusprechen. Das Volk aber hatte sich damit noch lange nicht abgefunden. Der Streit schien zu wachsen, das Kreischen und das Fäustegeschüttel, das diesen sonst so scheuen Frauen und ernsten Männern gar nicht anstand. Es läßt sich leicht vorstellen, daß die kleinen Kinder, welche die Mütter im Arm oder auf dem Rücken trugen, das allgemeine Tosen durch ihr Gezeter noch verschärften. Ohne Zweifel erkannten auch die Kinderseelen in diesem Augenblick die Gefahr und wehrten sich mit schrillen Wiehertönen gegen den nahenden Tod. Gabriel sah schweigend auf den Trubel hinab. Ter Haigasun trat zu ihm. Mit den Fingerspitzen seiner beiden Hände rührte er Bagradians Schultern an. Es war der Keim, der unentschlossene Versuch einer Umarmung. Eine Gebärde des Segnens und der Selbstüberwindung zugleich. Auf dem Grund

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