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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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werde. Die Austreibung gehe nicht vorüber wie ein Erdbeben, das immer noch einen Teil der Menschen und Häuser verschont. Die Austreibung werde so lange dauern, bis der Letzte des Volkes durch das Schwert getötet, auf der Landstraße verhungert, in der Wüste verdurstet, von Cholera und Flecktyphus hinweggerafft sei. Diesmal herrsche nicht regellose Willkür und aufgepeitschter Blutrausch, sondern etwas weit Entsetzlicheres – Ordnung. Alles verlaufe nach einem in den Ministerien von Stambul ausgearbeiteten Plan. Er, Ter Haigasun, wisse von diesem Plan seit Monaten, lange noch, bevor das Zeitun-Unglück ausbrach. Er wisse auch, daß alle Anstrengungen des Katholikos, des Patriarchen und der Bischöfe, die Bitten und Drohungen der Botschafter und Konsuln nichts gefruchtet hätten. Das einzige, was er, als armer kleiner Priester, habe tun können, war schweigen, unter Wissensqualen schweigen, damit die letzte gute Lebenszeit seiner armen Pfarrkinder nicht zerstört werde. Diese Zeit sei endgültig zu Ende. Nun müsse man der Wahrheit ohne Selbstbetrug ins Auge sehn. Niemand möge bei der Aussprache mit törichten Vorschlägen kommen, an die Behörden Bittgesandtschaften abzuschicken und dergleichen. Unsinnige Zeitvergeudung wäre das: »Menschliche Gnade gibt es nicht mehr. Christus, der Gekreuzigte, fordert die Nachfolge seines Leidens. Es bleibt für uns gar nichts anderes übrig, als zu sterben …«
    Hier schaltete Ter Haigasun eine kaum merkliche Pause ein, ehe er mit verändertem Ausdruck schloß:
    »Es fragt sich nur, wie!«
    »Wie sterben?? …« schrie Pastor Aram Tomasian und schnellte neben Ter Haigasun vor, »ich weiß, wie ich sterben werde. Nicht wie ein wehrloser Hammel, nicht auf der Landstraße nach Deïr es Zor, nicht im Kot der Deportationslager, nicht am Hunger und nicht an der stinkenden Seuche, nein, auf der Schwelle meines Hauses werde ich sterben, mit der Waffe in der Hand, dazu wird mir Christus helfen, dessen Wort auch ich künde. Und mit mir soll mein Weib sterben und das Ungeborene in ihr! …«
    Dieser Ausbruch hatte Arams Brust fast zersprengt. Er preßte die Hand aufs Zwerchfell, um seinen Atem zu sammeln. Ruhiger geworden, hob er nun an, das Schicksal der Ausgetriebenen zu beschreiben, wie er es selbst, wenn auch nur zum geringsten Teil und in mildester Form, erlebt hatte:
    »Was das ist, weiß niemand vorher, niemand kann es ausdenken. Man weiß es erst im letzten Augenblick, wenn der Offizier den Abmarsch befiehlt, wenn die Kirche und die Häuser, nach denen man sich umsieht, kleiner und kleiner werden, bis sie verschwinden …«
    Aram beschrieb den unendlichen Weg, von Etappe zu Etappe, das Wundwerden der Füße, das Aufschwellen des Körpers, das Zusammenbrechen, das Liegenbleiben, das Sich-Weiterschleppen, das allmähliche Vertieren, das wochenlange Verrecken unter täglichen Knutenhieben. Seine Sätze fielen selbst wie breite Knutenhiebe auf die Menge. Doch sonderbar! Noch immer entrang sich den gefolterten Seelen der Tausende kein Aufschrei, kein Wahnsinnsanfall. Noch immer starrten sie auf das Menschenhäuflein dort oben vor dem Haustor wie auf tragische Possenreißer, die ihnen etwas vormachten, was sie nichts anging. Diese Weinbauern, Obstgärtner, Holzschnitzer, Kammacher, Imker, Raupenzüchter, Seidenweber, die dem Nahenden so lange entgegengewartet hatten, sie konnten es nun, da es gekommen war, mit dem Verstande nicht fassen. Die verfallenen Gesichter zeigten immer angestrengtere Züge. Die Lebenskraft mühte sich ab, die kranke Verpuppung der letzten Zeit zu durchstoßen. Aram Tomasian rief:
    »Selig sind die Toten, die alles schon hinter sich haben.«
    Hier ging das erstemal ein unbeschreiblicher Wehelaut durch die Menge. Kein Aufheulen, sondern ein langes singendes Stöhnen, ein hinschwellender Seufzer, als seufze nicht der Mensch, sondern die leidende Erde selbst auf. Arams Wort schwang scharf über dem Wehelaut:
    »Auch wir wollen den Tod so schnell wie möglich hinter uns haben! Deshalb werden wir unsre Heimstätten verteidigen, damit wir alle, Männer, Frauen, Kinder, einen raschen Tod finden!«
    »Warum Tod?«
    Die Stimme kam aus Gabriel Bagradians Mund. Ein Licht tief in ihm fragte, während er sich hörte: Bin das ich? Sein Herz ging ruhig! Die beklommene Anwandlung war vorüber, für immer. Große Sicherheit stieg in ihm auf. Die Muskeln waren entspannt. Mit all seinem Wesen wußte er: Für diese Minute jetzt lohnt es sich, gelebt zu haben. Immer, so oft

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