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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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hätte die Bestimmung ihre Wohltaten für ihn nicht pfiffiger aufgespart. Der Nachfolger des ermordeten Galitzin war ein Fürst Woronzow. Dem neuen Gouverneur, einem unverheirateten Mann, folgte seine Schwester, auch sie unverheiratet, in das Regierungspalais von Baku. Prinzessin Woronzow trug ihre Altjungfernschaft mit großer Härte gegen sich selbst. Tatkräftig und von bestem Willen erfüllt, eröffnete sie in jedem Amtsbezirk, den ihr Bruder bezog, einen eigenartigen Seelenerlösungsbetrieb. Wer gegen sich selbst hart ist, wird es auch meist gegen andre sein, und so hatte sich die hohe Dame im Laufe der Zeit zu einer ausgesprochenen Sadistin der Nächstenliebe entwickelt. Ihr frommes Augenmerk richtete sie, wohin sie kam, zuerst auf die Gefängnisse. Die großen Dichter der russischen Erde hatten gelehrt, daß der Sündenpfuhl die allernächste Nachbarschaft des Gottesreiches bilde. In den Gefängnissen waren es hauptsächlich die jungen Intellektuellen und Politischen, die ihren Eifer weckten. Mit dieser ausgesuchten Schar wurde nun Sarkis Kilikian allmorgendlich in eine leere Kaserne geführt, wo nach Irene Woronzowas Lehrplan und unter ihrer tätigen Mitwirkung die Erlösungskur auch an ihm versucht wurde. Sie bestand teils aus scharfen Exerzierübungen, teils aus moralischem Unterricht. Die Prinzessin sah in dem jungen Armenier den reizvollen Sohn des Teufels selbst. Diese Seele war des Kampfes wert. Die Dame nahm deshalb Kilikian höchstpersönlich an die Kandare. Nachdem der dürre Teufelskörper durch mehrstündig hartes Exerzieren für die Zügelhilfen des Heiles zugeritten war, wurde die Seele an die Longe genommen. Zu ihrer größten Freude bemerkte Irene Woronzowa sehr bald die unglaublichen Fortschritte, die Kilikian auf dem guten Wege machte. Die Stunden mit diesem wortkargen Luzifer begannen sie selbst zu erleuchten. In der Nacht träumte sie oft das Frage- und Antwortspiel des Unterrichtes weiter. Es war selbstverständlich, daß der gelehrige Schüler belohnt werden mußte. Die Prinzessin erwirkte immer mehr Freiheiten für ihn. Mit der Abnahme der Fesseln begann es und endete damit, daß Kilikian, anstatt im Gefängnis, in einem Kämmerchen der leeren Kaserne wohnen durfte. Leider machte er von der guten Freistatt nicht lange Gebrauch. Schon am dritten Morgen nach seiner Übersiedlung war er verschwunden und bereicherte damit die Prinzessin Woronzow um eine bittere Erfahrung im Kriege gegen den Teufel. Wohin kann man aus Russisch-Kaukasien fliehen? Nach Türkisch-Kaukasien! Einen Monat später mußte Sarkis bereits erkennen, daß er als Unzurechnungsfähiger gehandelt und ein Paradies mit der Hölle vertauscht hatte. Als der Halb-Verhungerte sich in Erzerum nach einer Arbeit umsehen wollte, schleppten ihn die Schergen auf die Polizei. Da er sich weder rechtzeitig der Assentierung unterzogen, noch auch den vorgeschriebenen Bedel entrichtet hatte, wurde er als Militärflüchtling im Schnellgericht abgeurteilt und erhielt drei Jahre schweren Kerkers. Kaum also war er der russischen Katorga entkommen, als ihn die türkische gastfreundlich aufnahm. In dem Gefängnis von Erzerum legte der unerforschliche Bildhauer der Kreatur die letzte Hand an Sarkis Kilikian. Jene geheimnisvolle Gleichgültigkeit entstand, die Gabriel Bagradian schon an dem nächtlichen Gespenst verspürt hatte, eine Gleichgültigkeit, die mit diesem Wort nur angetastet und nicht erschöpft wird. Erst die Monate, die dem Ausbruch des großen Krieges vorangingen, setzten der Zuchthausstrafe ein Ende. Obgleich ihn der ausmusternde Arzt für mindertauglich erklärte, wurde Kilikian sofort unter die Rekruten eines Erzerumer Infanterieregimentes gesteckt. Das Leben, das er nun führte, glich wenigstens entfernt einem Menschenleben. Dabei zeigte es sich, daß sein äußerlich hinfälliger Körper über unverwüstliche Kraft und Zähigkeit verfügte. Auch schien das Soldatenwesen, trotz aller Gebundenheit, der Natur Sarkis Kilikians noch am ehesten zu entsprechen. Sein Regiment nahm im ersten Kriegswinter an dem denkwürdigen Kaukausus-Feldzug Enver Paschas teil, in dessen Verlaufe der zarte Kriegsgott nicht nur ein ganzes Armeekorps einbüßte, sondern selbst mitsamt seinem Hauptquartier beinahe in russische Gefangenschaft geriet. Die Abteilung, welche die Flucht des Stabes deckte und damit Envers Freiheit und Leben rettete, bestand fast durchwegs aus Armeniern, und ein Armenier wars, der den Generalissimus auf seinem Rücken aus der

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