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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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weitere Kugeln ihr das halbe Gesicht wegrissen, schwankte sie vor, neigte sich über Sarkis, der sie festhalten wollte, überströmte sein Haar mit ihrem mütterlichen Blut und begrub ihn unter ihrem Leib. Still lag er unter der warmen, schweratmenden Last der Mutter und rührte sich nicht. Nur noch vier Schüsse klatschten in die Wand. Dann hielt der milchgesichtige Jüngling sein Werk für getan: »Die Türkei den Türken«, krähte er, aber niemand sonst fiel in diesen Triumphruf nach errungenem Sieg ein. Während Sarkis so in sicherer Mutterhut lag, waren seine Sinne zu übermäßiger Schärfe verdammt. Er hörte ein Gespräch, das darauf schließen ließ, daß sich der Truppführer in einem Stubenwinkel abscheulich benahm. »Warum tust du das«, tadelte ihn eine Stimme, »es liegen hier Tote.« Der nationale Überzeugungskämpfer aber ließ sich nicht stören und fauchte: »Noch als Tote sollen sie wissen, daß wir die Herren sind und sie nur Gestank.« Lange schon herrschte tiefe Stille, ehe der blutüberströmte Sarkis unter der Mutter hervorzukriechen wagte. Durch diese Bewegung schien Frau Kilikian aus ihrer Bewußtlosigkeit zu erwachen. Sie hatte kein Gesicht mehr. Aber ihre Stimme war die alte und so ruhig: »Hol mir Wasser, mein Kind.« Der Krug war zerbrochen. Sarkis schlich sich mit einem Glas zum Brunnen im Hof. Als er zurückkam, atmete die Mutter noch, doch sie konnte weder trinken mehr noch reden. – Der Knabe wurde zu reichen Verwandten nach Alexandrette gebracht. Nach einem Jahr schien er alles überwunden zu haben, wenn er auch kaum etwas aß und niemand, selbst die gütigen Zieheltern nicht, mehr als die notwendigsten Worte aus ihm herauspumpen konnten. Lehrer Schatakhian war über all diese Dinge genau unterrichtet, weil es dieselben Alexandretter Bürger waren, die ihm den Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht hatten. Später wurde Sarkis nach Edschmiadsin in Rußland an das größte theologische Seminar des armenischen Volkes gesandt. Den Kandidaten dieser berühmten Hochschule stand der Weg zu den höchsten Würden der gregorianischen Kirche offen. Der geistliche Drill, in den sich die Studenten fügen mußten, war eher mild als hart zu nennen. Und dennoch floh Sarkis Kilikian, in dem sich langsam ein wilder, ja krankhafter Freiheitstrieb entwickelte, noch ehe er sein drittes Schuljahr vollendet hatte. Er stand vor seinem achtzehnten Geburtstag, als er in den schmutzigen Gassen von Baku umherirrte, mit nichts anderem ausgestattet als mit seiner alten Seminarkutte und einem vieltägigen Hunger. Es fiel ihm nicht ein, sich an seine Zieheltern um eine Geldsendung zu wenden. Vom Tage seiner Flucht aus Edschmiadsin an blieb der Schützling für jene braven Leute verschollen. Sarkis Kilikian hatte keine andere Wahl, als Arbeit zu suchen. Er fand auch die einzige Arbeit, die in Baku reichlich ausgeboten wurde, die Sklavenarbeit auf den weiten Ölfeldern, die sich längs der öden Küste des Kaspischen Meeres erstrecken. Dort wurde schon nach wenigen Monaten durch die Macht des Öls und der Erdgase seine Haut gelb und welk. Seine Gestalt dorrte aus wie ein abgestorbener Baum. In Anbetracht seiner Bildungsstufe und Wesensart kann es nicht wundernehmen, daß er in die sozialrevolutionäre Bewegung geriet, die damals die Arbeiterschaft des russischen Orients zu erobern begann, Georgier, Armenier, Tataren, Tjurken und Perser. Wohl hetzte die Zarenregierung die einzelnen Volksstämme immer wieder gegeneinander, konnte aber die einigende Bewegung gegen die Petroleum-Herren doch nicht brechen. Von Jahr zu Jahr wurden die Streiks umfassender und erfolgreicher. Bei einem dieser Aufstände kam es durch die Kosaken zu einem furchtbaren Blutvergießen. Als Antwort darauf wurde der Gouverneur des Bezirkes, ein Fürst Galitzin, während einer Spazierfahrt meuchlings ermordet. Unter den Angeklagten, denen Verschwörung und Attentat zur Last gelegt wurden, befand sich auch Sarkis Kilikian. In der Verhandlung konnte man ihm so gut wie nichts nachweisen. Kilikian schien ein sonderbarer Politiker gewesen zu sein. Er hatte weder jemals Reden gehalten, noch sich in unterirdischen Organisationen hervorgetan. Keiner wußte etwas Bestimmtes über ihn auszusagen. Doch »entlaufener Priesterzögling«, das war eine Klasse für sich, aus ihr kamen die ganz hartgesottenen Empörer. Dies allein schon genügte. Sarkis wanderte auf Lebensdauer in die Katorga von Baku. In dieser Unrat- und Rattenburg wäre er heillos verwest,

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