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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Kräften besaß. Das lederumspannte Gerippe, das er war, starb nicht am Wege, sondern erreichte in den ersten Apriltagen Dört Yol, die alte Heimat. Ohne der Gefahren zu achten, ging Kilikian auf sein Vaterhaus zu, aus dem ihn vor zwanzig Jahren weinende Menschen hinweggeführt hatten. Das Haus war dem Gewerbe seines Vaters treu geblieben; ein Uhrmacher und Goldschmied bewohnte es. Das wohlbekannte Feilen und Feingehämmer drang aus dem Laden. Sarkis trat ein. Der entsetzte Uhrmacher wollte ihn schon hinausjagen, als Sarkis seinen Namen nannte. Darauf beriet sich der neue Hausvater mit seiner Familie. Dem Flüchtling wurde eine Schlafstelle in dem großen Zimmer angewiesen, wo sich das Furchtbare ereignet hatte. Die Kugelspuren an der Wand waren nach zwanzig Jahren noch immer zu sehen. Kilikian hielt sich zwei Tage lang an dieser Zufluchtstätte auf. Der Uhrmacher verschaffte ihm inzwischen ein Gewehr und Munition. Auf die Frage, womit man ihm sonst noch helfen könne, bat er nur mehr um ein Rasiermesser, ehe er nach Einbruch der Dunkelheit verschwand. Schon in der übernächsten Nacht begegnete er im Dorfe Gomaidan zwei Deserteuren, die ihm mit der Miene von gewiegten und verläßlichen Kennern den Musa Dagh als wohlerprobten Aufenthaltsort anempfahlen.
    Das ist die Geschichte Sarkis Kilikians, des Russen, wie sie sich aus Lehrer Schatakhians Erzählung, aus Tschausch Nurhans zustimmendem Schweigen, aus den Einwürfen und Beifügungen andrer Zuhörer in Gabriel Bagradians empfindsam mitformendem Geiste spiegelte. Der abendländische Mensch erschauerte in Ehrfurcht vor der Schicksalswucht eines solchen Lebens und vor der Kraft, die unter ihm nicht zusammenbrach. In die Ehrfurcht aber mischte sich auch Grauen und der Wunsch, diesem Opfer der Kerker und Kasernen möglichst aus dem Wege zu gehen. Nach langer nächtlicher Beratung mit Tschausch Nurhan beschloß Bagradian, den Russen und die übrigen Deserteure unter die Besatzung der Südbastion zu verteilen. Sie war der sicherste Punkt der gesamten Verteidigung und lag überdies am weitesten vom Volkslager entfernt.
    Am dritten Morgen kehrte alles in die Dörfer zurück. Nur einige verläßliche Wachen blieben bei den Vorräten und Waffen auf dem Damlajik zurück. Ter Haigasun selbst hatte diese Anordnung getroffen. Die Saptiehs durften bei der Waffensuche keine leeren oder halbleeren Häuser vorfinden. Das auffällige Fehlen der Jugend hätte sich weder durch die gottergebene Schar Pastor Nokhudians in Bitias, noch auch durch den gesetzten Volksteil in den anderen Dörfern verschleiern lassen. Gabriel Bagradian hatte die Anordnung des Priesters erwartet. Vermutlich steckte noch eine erzieherische Absicht hinter ihr. Die Jugend des Musa Dagh, die bisher alle Greuel nur vom Hörensagen kannte, sollte der lebendigen Wirklichkeit in die Augen sehen, um dann den Kampf mit der allerletzten Verzweiflung zu führen.
    Genau zur Stunde, die Ali Nassif vorausgesagt hatte, trafen die Saptiehs in Yoghonoluk ein, etwa hundert an Zahl. Es lag offensichtliche Geringschätzung darin, daß die Behörde mit so wenig Bewaffneten den großen Bezirk auszuheben gedachte: Die armenischen Hammel leisten keinen Widerstand, wenn man sie zur Schlachtbank führt. Die wenigen, der Regierung hochwillkommenen Gegenbeispiele beweisen nichts. Wie könnte sich ein schwaches Handelsvolk mit einem heroischen Wehrvolk messen?! Die Antwort auf diese Frage bildeten die hundert nach Yoghonoluk entsandten Gendarmen. Dies aber waren nicht mehr die gemütlichen Mordgesellen von anno Abdul Hamid. Keine von Pockennarben entstellten Gesichter, deren treuherzig-grausames Zwinkern anzeigte, daß es für entsprechende Gegenleistung mit sich reden lasse. Da war nur mehr schlichte Grausamkeit ohne Nebenzweck. Die Saptiehs trugen keine räudigen Lammfellmützen wie früher und auch nicht jene aus Waffenrock und irgend einem unaussprechlichen »Zivil« zusammengesetzte Zufallsuniform der guten alten Zeit. Ihr Körper steckte in der allgemeinen gelb-braunen Feldmontur, die frisch gefaßt war. Um den Kopf hatten sie nach Beduinenart lang herabhängende Sonnen- und Schweißtücher gebunden, die ihnen das unerbittliche Aussehen ägyptischer Sphinxe verliehen. In Reih und Glied zogen sie auf, zwar noch nicht ganz mit dem militärischen Maschinenschritt des Westens, doch auch nicht mehr ganz in der wiegenden Gangart des Orients. Auch auf diese stambulfernen Saptiehs von Antiochia hatte Ittihad eingewirkt, indem es den alten

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