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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Linie trug. (Als Schatakhian den Sarkis unter diese Armenier versetzte, warf Gabriel, der eine legendarische Ausschmückung des Lehrers fürchtete, dem alten Tschausch Nurhan einen forschenden Blick zu. Dieser aber nickte mit ernster Gemessenheit.) Ob sich nun Kilikian unter diesen Tapferen geschlagen hatte oder nicht – der Dank Envers an die ganze Nation folgte der Rettung jedenfalls auf dem Fuße. Kaum waren die Erfrierungswunden des Soldaten Sarkis halbwegs geheilt, kaum hatte er sein Lager auf den Steinfliesen des überfüllten Hospitals mit seinem Lager auf den Steinfliesen der überfüllten Kaserne wieder vertauscht, als der Befehl des Kriegsministers verlesen wurde, der alle Armenier aus den Kompagnien schmachvoll ausstieß, sie der Waffen beraubte und zu Inschaat Taburi, zu verächtlichen Armierungssoldaten erniedrigte. Man hetzte sie aus allen Winkeln zusammen, nahm ihnen die Gewehre ab und trieb sie in elenden Rudeln nach Südosten, in die hüglige Gegend von Urfa. Dort mußten sie, hungernd und allstündlich von der Bastonade bedroht, die Steine zum Bau einer Straße herbeischleppen, die in der Richtung auf Aleppo angelegt wurde. Ein eigener Befehl verbot ihnen, sich durch Tragpolster gegen die kantigen Lasten zu schützen, obgleich schon in den ersten glutheißen Arbeitsstunden ihre Schultern und Nacken blutig gescheuert waren. Während alle anderen stöhnten und jammerten, stapfte Sarkis Kilikian lautlos den Weg vom Steinbruch zum Straßenstück, vom Straßenstück zum Steinbruch, als habe sein Körper längst schon vergessen, was Schmerz sei. Eines Tages ließ der Hauptmann alle Mannschaften der Inschaat Taburi antreten. Unter diesen befanden sich zufalls- oder strafweise auch einige Mohammedaner. Sie wurden aus den Reihen gesondert. Die waffenlose Armenierschar aber marschierte unter Führung von zwei Offizieren ungefähr eine Stunde weit weg von ihren Quartieren, in ein liebliches Tal, das sich zwischen zwei Hügeln verengte. »Das sind die Hügel von Tscharmelik«, sang ein Argloser, der aus dieser Gegend stammte und sich des freien Tages unbändig freute. Doch auf dem sanften Rasen dieses Tals empfing sie nicht nur Thymian und Rosmarin, Orchideen, Pimpernell und Melissen, sondern höchst merkwürdigerweise auch eine kriegsmäßig ausgerüstete Kompagnie. Die Armenier ahnten nichts. Als man sie an der Hügellehne ein langes Glied bilden ließ, ahnten sie noch immer nichts. Dann ging ohne alle Umstände und Vorbereitung das Feuer urplötzlich am rechten Flügel los. Schreie durchschnitten die Luft, weniger Schreie der Todesangst als der Ausbruch eines unermeßlichen Erstaunens. (Eine Frau, die unter den Zuhörern saß, unterbrach hier den Lehrer Schatakhian: »Kann Gott unter seinen Engeln diese Schreie vergessen?« Dann packte sie selbst ein Weinkrampf, den sie nur mühsam ersticken konnte.) Sarkis Kilikian warf sich geistesgegenwärtig auf die Erde. Die Kugeln zirpten über ihn hinweg. Er entging ein zweites Mal dem türkischen Tod. Unter Leichen und Hilflos-Verreckenden blieb er liegen, um die Finsternis abzuwarten. Doch lange vor Abend noch bekam die blumige Mordstätte Enverscher Nationalpolitik neuerlichen Besuch. Die Leichenfledderer der Gegend wollten das ärarische Gut, das die »Hingerichteten« an sich trugen, nicht vorzeitig verkommen lassen. Auf die festen Militärstiefel hatten sie es besonders abgesehen. Während ihrer schwierigen Arbeit ächzten sie eines jener Lieder, welche die Austreibung hervorgebracht hatte. Es begann mit dem lautmalenden Vers: »Kessé kessé sürür jarlara. – Mordend, mordend hetzt man sie.« Auch an Kilikians Stiefel kam die Reihe. Er spannte seine Muskeln zum Zerreißen an, um Leichenstarre zu simulieren. Die Totenräuber zerrten und zogen wütend an seinen Füßen, es fehlte nicht viel und sie hätten sie ihm mit einer Hacke abgeschlagen, um der Stiefel habhaft zu werden. Endlich aber empfahlen sich auch diese herzhaften Kunden, ein neues Lied auf den Lippen: »Hep gitdi, hep bitdi! – Alle fort, alle hin!« In dieser Nacht begann Sarkis Kilikians ungeheuerliche Irrfahrt. Die Tage brachte er in wilden Verstecken zu, die Nächte lief er auf unbekannten Pfaden durch Steppen und Sumpffelder. Er nährte sich von nichts, das heißt von dem, was überall aus der Erde wuchs. Nur selten wagte er sich in ein Dorf, um in tiefer Dunkelheit an eine armenische Tür zu klopfen. Wahrhaftig, nun zeigte es sich, daß Sarkis einen Teufelskörper mit übermenschlichen

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