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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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wir uns gegeben haben. Sie aber steht außerhalb dieser Gesetze. Sie ist Französin, eine Fremde, ein Kind glücklicherer Völker, vom Schicksal gezwungen, unser Leiden mitzuleiden. Sie wird folglich die großmütigste Gastfreundschaft unseres Volkes genießen.«
    Alle Mitglieder des Führerrates verstanden sofort Bagradians Appell an die Gastfreundschaft: Die drei Zelte, die allein Julietten vorbehalten waren, die hochgetürmten Gepäckstücke, die eigene Küche, der unabhängige Haushalt, die Dienerschaft, der abgesonderte Vorrat, die beiden holländischen Kühe (die Awetis, der Jüngere, angeschafft hatte), all diese Ausnahmsgüter bildeten Vergünstigungen, die dem Volke mundgerecht gemacht werden mußten. Gabriel Bagradian hatte zwar verfügt, daß der größte Teil der Milch an die Kinder des Lagers verteilt werde, ebenso wie alles, was in der Küche entbehrlich sei, dennoch bedeuteten diese Zuwendungen aber lediglich Reste, die die Herrschaft übrig ließ. Feinde, oder auch nur Leute, die ihm nicht wohlgesinnt waren, hätten die Reden Bagradians, in denen er die Notwendigkeit der Gemeinwirtschaft verfocht, mit der üppigen Tatsache des Dreizeltplatzes bloß in Vergleich ziehen müssen, um einen peinlichen Widerspruch zwischen Bekenntnis und Lebensführung nachzuweisen. Es konnte zwar nicht geleugnet werden, daß der Befehlshaber nicht im Zelte, sondern in der Stellung schlief, daß er das gleiche Essen bekam wie alle anderen Kämpfer, daß sein Besitztum, das er der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt hatte, eines der größten Anteile ausmachte – ebensowenig aber konnte es geleugnet werden, daß er um Juliettens willen eine große Menge von Köstlichkeiten der Gemeinschaft vorenthielt. In dieser Unstimmigkeit war die Gefahr von Konflikten gelegen. Niemand unter den Führern schien aber jetzt an Ähnliches zu denken. Und doch hatte Thomas Kebussjan, der Muchtar von Yoghonoluk, vor einer Stunde eine bittere Predigt seiner Ehefrau des Dreizeltplatzes wegen über sich ergehen lassen müssen. Ob sie, die Schülerin der Missionare von Marasch, denn keine Dame sei, hatte sich die Muchtarin ereifert, daß sie so tief unter die Französin zu stehen komme und eine elende Laubhütte bewohnen müsse, genau so wie die Frauen des gemeinen Volkes? Ob ferner ihr Gatte, ein Thomas Kebussjan, wirklich solch ein erbärmlicher Schlucker sei, daß es zwischen ihm und irgend einem bettelhaften Dikran oder Mikael keinen Unterschied mehr geben solle, während der Unterschied zwischen ihm und dem eingebildeten Bagradian unermeßlich sei? Die Folge dieser eheweiblichen Giftpille war, daß Thomas Kebussjan es auf schlauen Umwegen erreichte, daß für ihn und seine Familie keine windige Laubhütte, sondern ein geräumiges Blockhaus in nächster Nähe des Altars errichtet wurde. Damit der stattliche Bau kein böses Blut mache, war der Muchtar entschlossen, über den Eingang eine Tafel mit der Aufschrift »Gemeindehaus« zu hängen. Im Bewußtsein dieses eigenen Streiches nickte er jetzt beifällig zu Bagradians Aufruf zur Gastfreundschaft. Lehrer Schatakhian aber, der Französling, nahm die Gelegenheit wahr, eine edelgesinnte Erklärung abzugeben. Die Gegenwart von Madame, einer echten Pariserin, unter dem Volke des Musa Dagh sei Ehre und Ansporn zugleich. Jeder Armenier-Sohn werde darin wetteifern, ihr, dem Gaste aus dem schönen Frankreich, das Leben so leicht wie möglich zu machen und, wenn es sein müsse, das eigene Blut zu vergießen, um Madame zu schützen. Nach diesen Worten Hapeth Schatakhians stieß Lehrer Oskanian den Kolben seines Karagewehres – er machte keinen unbewaffneten Schritt mehr – hart gegen den Boden. Es war nicht klar, ob er damit dem Kollegen die Zustimmung für seine Rede oder das Mißfallen an seinem feierlichen Wortreichtum bekundete. Ter Haigasun aber sah Gabriel voll an, ehe er beim Sprechen, wie es seine Art war, den Blick niederschlug:
    »Gabriel Bagradian! Wir wünschen alle, daß Ihre Frau mit dem Leben davonkommt, wenn uns hier früher oder später das Ende ereilt. Möge sie dann in Frankreich von uns Freundliches sprechen!«
    Juliette bewohnte das eine der Expeditionszelte. Im zweiten hatte sie Iskuhi und Howsannah untergebracht, die melancholisch angstvoll ihrer Zeit entgegensah. Im Scheichzelt, das zur Hälfte als Gepäck- und Vorratkammer diente, waren drei Lager aufgeschlagen. In dem einen Bett schlief Stephan, das zweite gehörte Samuel Awakian, der aber als Adjutant und Generalstäbler

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