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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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herab und hüllten den stumpfen Grauwackenklotz des hohen Berges in ein bedeutsames Goldgespinst. Trunken vor Müdigkeit sahen die Wachen dieses Wunder und sahen es nicht. Gegen Morgen aber brütete der abgestandene Regen im Laub, das erste Zwielicht und der warmdampfende Nebel Wölkchen von kleinen roten Fliegen aus, die sich auf die Gesichter und Hände der Schläfer gierig herabsenkten. Ihre Stiche brannten und hinterließen lästige Entzündungen.
     
    Pastor Aram Tomasian saß auf einem Späherposten, den die Kundschaftergruppe der Knaben in der Krone einer uralten Eiche errichtet hatte. Von diesem Punkte aus konnte man Kirchplatz und Dorfstraße der großen Ortschaft Bitias genau überschauen. Der Pastor hatte sich Bagradians Feldstecher ausgeliehen, und so lag der staubbewegte Platz und Weg deutlich vor seinen Augen. Die protestantische Gemeinde Nokhudians stand abmarschbereit vor der Kirche. Der Menschenhaufen machte einen sehr umfänglichen Eindruck; es schien eine erkleckliche Anzahl von Gesinnungsgenossen heimlich zu Nokhudian gestoßen zu sein. Die Überraschung, bis auf Bitias alle Armeniernester leer zu finden, mochte der Grund sein, warum Müdir und Polizeivogt die Ausstoßung vom Samstag auf den heutigen Sonntag verlegt hatten. Die Saptiehs liefen hin und her, ihre Knüppel oder Gewehre schwingend. Genau konnte man das nicht unterscheiden. Ein entrückter Zickzack kleiner Gestalten. Vielleicht schlugen die Gendarmen schon jetzt mit ihren Knuten drein. Doch kein Laut der Empörung und des Jammers verirrte sich hierher. Die Ferne dämpfte das Furchtbare zu einem mattbelebten Bild. Tomasian mußte sich erst innerlich zu dem Bewußtsein überreden, daß sich im Kreisausschnitt des Fernglases dort unten nicht ein puppenhaftes Schauspiel begebe, an dem er keinen Anteil habe, sondern sein eigenes Schicksal. Aram sagte sich immer wieder, daß er sich aus der Schar dieser Vertriebenen, die in der Staubwolke des Tales ihren Todesgang antraten, nur geflüchtet habe, um für ein paar Tage sein Erdendasein zu verlängern. Hier oben in der Eiche war es so schattenwohlig. Den Körper durchströmte ruhevolles Behagen. Die Wirklichkeit des Tales löste sich in winzige Bewegtheiten auf, die das Auge spannten, dem Herzen aber gleichgültiger blieben als ein Traum. Pastor Tomasian fuhr unter der Erkenntnis seiner kaltherzigen Schuld zusammen. Dorthin gehörte er und nicht hierher. Vor seinen Sinnen erstand das Missionshaus von Marasch. Reverend C. E. Woodley, der ihm von Gott gesandte Prüfer, stellte noch einmal die schillernde Fallen-Frage: »Kannst du den Kindern helfen, wenn du mit ihnen in den Tod gehst?« Nun aber hatte er dort in Bitias zum zweitenmal die Gelegenheit versäumt, sein Leidenszeugnis vor Christus zu verbessern. – Es dauerte noch lange, quälend lange, ehe sich der Zug seines greisen und doch um so viel gerechteren Amtsbruders Harutiun Nokhudian in Bewegung setzte. Im übrigen hatte der sommersprossige Müdir den Verschickten zweifellos einige Vergünstigungen gewährt. Die vielen Packesel schritten im Zug, dem sogar ein paar Karren mit ihren in der Staubwolke hopsenden Vollrädern folgten. Und Pastor Aram Tomasian sah, was er in den sieben letzten Tagen von Zeitun so oft gesehen hatte: Ein kranker, sterbensmatter Menschenwurm, eine schwärzliche Raupe mit zitternden Fühlern, Borsten und Füßchen, wand sich zertreten durch die Landschaft, ohne vom Fleck zu kommen. Das wunde preisgegebene Tier schien in der offenen Talfalte vergebens ein Versteck zu suchen. Mit peristaltischen Rucken schob es die vordersten Leibringe vor und zog die hinteren schmerzhaft nach. Tiefe Kerben entstanden so, und oft zerriß die schleichende Raupe in mehrere Teile, die von ihren kaum sichtbaren Peinigern bedrängt, schlecht und recht zusammenwuchsen, um an der kaum vernarbten Stelle wieder auseinanderzubrechen. Es war nicht das Kriechen, sondern der zuckende Todeskampf eines Wurms, ein letztes Sich-Ringeln, Strecken und Krampfen, während die Aasinsekten sich schon über die offenen Wunden hermachten. Fast wie ein Wunder wirkte es, daß zwischen dem Wurm und den Dörfern sich nach und nach ein Abstand bildete, wenn auch unerträglich langsam. Es sind einige schwangere Frauen darunter, überlegte Pastor Aram. Und sofort fiel ihm der Gedanke an Howsannah aufs Herz. Verschiedene Anzeichen sprachen dafür, daß die Stunde seiner Frau unmittelbar bevorstehe. Keinerlei Vorsorge war getroffen worden und konnte getroffen

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