Die vierzig Tage des Musa Dagh
waren, das armenische Feuer von allen Seiten. Sie sprangen durcheinander. Sie vergaßen ihre Gewehre. Der Türke und insbesondere der Anatolier ist ein berühmter Soldat. Dieser Angriff jedoch kam aus dem Nichts. Auch die Tapferen wußten nicht, wie sie sich wehren sollten. Schon zerriß Stöhnen und Brüllen die Luft, als die Armeniersöhne hinter den Felsen und aus den Schlupfwinkeln hervorfuhren. Mit Tschausch Nurhan an der Spitze schoben sie sogleich einen Keil zwischen die Infanterie und die Saptiehs. Von diesen wurde ein beträchtlicher Teil in die Steilwände abgesprengt. Die Saptiehs verstiegen sich im unerbittlichen Gemäuer, drückten sich, der Kugel gewärtig, hilflos an den Fels, oder blieben, an harte Stachelgewächse geklammert, verzweifelt hängen. Mehrere gerieten ins Rutschen, überkugelten sich und schlugen wie Bälle auf, ehe sie ins Meer hinabsausten. Die Kernschar der Türken aber suchte dem tödlichen Felsgewirre auf dem kürzesten Wege zu entkommen und sprang, stolperte, stürzte dem Sattel entgegen, von den Bergkriegern verfolgt. Diese waren nicht mehr bei Besinnung. Sinnlos kehlige Gröl-Laute entrollten ihrem Mund, während sie die Türken jagten. Auch Gabriel Bagradian hatte die Klarheit des Führers längst verloren, von einem unbekannten Rausch geschüttelt, von einer irrsinnigen Urmusik, die aus dem Jahrtausendschlaf seines Blutes erwacht war. Auch aus seiner Brust drangen die kurzen, gaumigen Laute einer Wildnis-Sprache, die ihn wachen Sinnes mit Grauen erfüllt hätte. Nun wurde die Welt noch hundertmal gewichtloser als vorhin. Sie war nichts, nichtiger als das dünne Zittern einer Libelle. Sie war ein rötlich hüpfender Tanz und tat dem Tänzer nicht weh. Doch nicht nur Gabriel, auch Pastor Aram Tomasian, der sich unter den Kämpfern der Felsbarrikaden befand, war von dem Wahnsinn mitergriffen. Wie ein alter Kreuzfahrer ruderte er mit einem Kruzifix in der Luft und heulte: »Christus, Christus!« Der Ritter Christus dieses Schlachtrufs aber hatte blutwenig mit dem gestrengen Leidens-Herrn gemein, an dessen Evangelium Pastor Aram sonst seine Taten prüfte. Sonderbarerweise weckte Arams Christusgeschrei Gabriel Bagradian aus seiner Besinnungslosigkeit auf. Er begann die Schlacht zu beobachten wie einer, der nicht dazu gehört, geschweige denn Befehlshaber ist. Mit dem Kampflärm im Felsgebiet war für die türkische Schützenlinie am Waldrand der Gegenhöhe das Zeichen gegeben, zum Frontangriff überzugehen. Die Schwärme brachen vor, schossen ins Leere, warfen sich nieder, schossen, sprangen auf, liefen ein Stück, warfen sich nieder. In diesem Zeitpunkt gerade wurde die zerschmetterte Umgehungsgruppe von den Armeniern aus den Felsen herausgejagt. Das Feuer der Verfolger traf daher die angreifende Schützenlinie in die Flanke. Gabriel Bagradian stand, ohne zu schießen, auf einem Felsblock. Er sah, wie einer der türkischen Leutnants einen regellosen Haufen abfing, um den Mittelpunkt eines Widerstands zu bilden. Schon warf sich der Schwarm auf die Erde und begann das Feuer. Tschausch Nurhan aber sprang auf den türkischen Offizier zu und schlug ihn mit dem Kolben nieder. Die Türken warfen die Gewehre fort, als hätten sie den Teufel erblickt. Der Längerdienende war auch etwas Ähnliches. Er zeigte, welch einzigartigen Schüler die türkische Infanterie an ihm verloren hatte. Sein Gesicht war blutrot. Der graue, langausgezogene Schnurrbart sträubte sich. Er hatte nicht einmal mehr ein heiseres Krächzen in der Kehle. Der Gedanke, daß er sich decken müsse, um nicht abgeschossen zu werden, schien ihm gar nicht zu kommen. Manchmal hielt er inne, setzte die Trompete an den Mund und entlockte ihr einige atemlos stotternde Rufe, die in ihrer Grausigkeit die Wirkung auf Freund und Feind nicht verfehlten. Als Bagradian sah, daß die Türken eine Frontwendung gegen die Felsseite durchzuführen versuchten, gab er den Männern des langen Grabens mit dem überm Kopf geschwungenen Gewehr das Galoppzeichen. Die Zehnerschaften, die der Gruppenführer kaum mehr zurückgehalten hatte, stürzten mit Gebrüll vor und überschütteten die neue Türkenfront mit einem Kugelhagel, ohne sich hinzuwerfen, ohne der Munition mehr zu achten. Die Kompagnie war somit rettungslos zwischen die Kiefer einer Zange geraten. Mit größerer Erfahrung und Geistesgegenwart hätte Bagradian sie völlig aufreiben oder gefangennehmen können. So aber gelang es den Türken doch, in wildem Lauf zu entkommen, obgleich ihnen
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