Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
machte Zeichen, daß sie herankommen möchten. Dann schrie er ihnen zu:
    »Die Toten und Verwundeten könnt ihr mitnehmen. Gewehre, Munition, Tornister, Patronentaschen, Brotbeutel, Montur und Stiefel bleiben hier!«
    Daraufhin waren die Sanitätssoldaten unter Drohung der auf sie gerichteten Läufe gezwungen, die Toten und Verwundeten bis auf die Unterkleider auszuziehen und das Geforderte in schmählichen Haufen liegen zu lassen. Nachdem sie dann mit den Opfern verschwunden waren – es dauerte lange Zeit, weil sie immer wiederkehren mußten –, waren alle Kämpfer, einschließlich Tschausch Nurhans, der Meinung, der Angriff sei vollkommen abgeschlagen und kein neuer Ansturm zu erwarten. Gabriel hörte auf diese verführerischen Stimmen nicht, sondern befahl Awakian, die besten Burschen aus der Kundschaftsgruppe der Jugend vorzuschicken und einen Teil der Ordonnanzgruppe antreten zu lassen. Letztere erhielt den Auftrag, die erbeuteten Gewehre, Tornister, Magazine und Uniformen in größter Eile einzusammeln und hinter die Linie zu bringen. Unter den Spähern suchte er vier der geschmeidigsten aus. Sie mußten der Kompagnie folgen, um ihre Bewegungen genau zu beobachten. Ehe die Ordonnanzen noch mit dem Einsammeln fertig waren, kehrte Haik, ein Junge, der nur wenig älter als Stephan zu sein schien, bereits mit der Meldung zurück, ein Teil der Türken erklettere weiter oben im Norden den Berg, an einer Stelle, wo doch gar nichts zu finden sei.
    Es konnte sich nur um einen Umgehungsversuch von der Meerseite her handeln. Darüber war sich nach dieser Meldung nicht nur Gabriel Bagradian klar, sondern auch Tschausch Nurhan und andere. Gabriel übergab das Kommando dem verläßlichsten Gruppenführer und verließ mit Nurhan den Graben. Sie kletterten zu den kampfgierigen Männern, die hinter den Felsbarrikaden standen. Die Kinder des Musa Dagh kannten jeden Block, jeden Vorsprung, jede Grotte, jeden Strauch, jede Agave auf diesem nackten zerfressenen Kalkgefelse, unterhalb dessen die zerrissenen Steilwände jäh oder stufenweise oft zwei- und dreihundert Meter tief ins Meer stürzten. Diese Kenntnis des Berges war ein unberechenbarer Vorteil jeder Truppe gegenüber, die sich hier nicht zurechtfand, mochte sie so stark sein, wie immer sie wollte. Bagradian überließ es den Bergsöhnen, sich selbst in den Schrunden und hinter den Felsmassen so klug zu verteilen, daß die Verbindung immer aufrecht erhalten blieb und keiner ins Feuer des andern geraten konnte. Die Aufgabe war die gleiche wie früher, den Feind durch vollständige Unsichtbarkeit und Totenstille vor- und ins Verderben zu locken. Dieser aber war nun schon gewitzter. Seine Hauptmacht schob er langsam auf den Gegenhöhen dem Sattel entgegen und eröffnete schon am Waldesrand, hinter den Bäumen gut gedeckt, ein überstürztes und doch ängstliches Feuer auf den großen Graben, das von der Besatzung wieder nicht zur Kenntnis genommen wurde. Währenddessen aber tauchte, von den Spähern angesagt, eine Patrouille von vier Mann mit der größten Zaghaftigkeit im Felsgebiet auf. Man sah weithin, daß es keine Männer des Gebirges waren, sondern Männer der Ebene. Unbeholfen im Gestein fußfassend, duckten sie sich von Deckung zu Deckung. Mit Umsicht rekognoszierten sie, blickten in jedes Loch und hinter jede Kante. Die Armenier erkannten mit Wollust im Herzen, daß es Saptiehs waren. Die Soldaten waren Fremde. Was aber die Saptiehs waren, wußte jeder. Nun kam der Augenblick, es diesem niedrigsten Raubzeug des Militarismus heimzuzahlen, diesen bestialischen Memmen, die gegen Großmütter tapfer waren, vor Männern aber schlotterten, ehe sie diese nicht dreimal entwaffnet hatten. Gabriel sah in manchem Auge einen trunkenen Wahnsinn aufflammen. Der Onbaschi der Saptiehs mußte den Eindruck gewonnen haben, daß er schon über die Grabenlinie hinaus in den Rücken der Armenier geraten sei. Er schickte lautlos einen Mann zurück, der mit einer roten Signalflagge zu fuchteln begann. Ziemlich lange dauerte es, bis die Umgehungsgruppe heranzögerte, mit zurückzuckendem Stolperschritt, als gelte es, nicht auf rauhen Kalkstein, sondern in kochendes Wasser zu treten. Die Mannschaft dieser Gruppe war zur Hälfte aus Infanteristen, zur Hälfte aus Saptiehs gemischt. In losen Knäueln erreichte sie, von zwei Offizieren vorwärts getrieben, jene Stelle, bis zu der der Onbaschi die Gegend rekognosziert hatte. Da umfaßte sie in einem Augenblick, da die wenigsten in Deckung

Weitere Kostenlose Bücher