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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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zwängte er sich durch die dicke Menge. Er hatte nur ein einziges Bedürfnis, dies aber war unerträglich stark: Rasieren, waschen, sich abreiben, minutenlang, vom Kopf bis zu den Füßen, und dann einen leichten seidenen Schlafanzug auf dem Körper fühlen! Immer wieder klemmte ihn die Masse fest. Immer wieder mußte er Handküsse und Danksprüche über sich ergehen lassen. Er sah sich nach Hilfe um, nach einem Gesicht, das ihn anging. Endlich entdeckte er Iskuhi. Sie war ihm von Anfang an gefolgt, hatte sich aber immer hinter seinem Rücken gehalten. Jetzt langte er nach ihr, als könnte Iskuhis gebrechlicher Körper ihn stützen. Sie sah, daß er totenblaß war, und preßte krampfhaft ihre rechte Hand unter seinen Ellenbogen, als spüre sie, daß er nach Stütze verlange.
    »Juliette wartet und hat alles vorbereitet«, flüsterte sie ihm zu.
    Er lauschte nicht den Worten, sondern der Berührung nach. Wie eine Blindenführerin ging Iskuhi neben ihm. Plötzlich wunderte er sich, daß heute das viele Blut und der viele Tod gar keinen Eindruck auf ihn gemacht hatte.
    Im Zelte wusch sich Gabriel mit Inbrunst, nachdem einer der Dorfbarbiere ihn rasiert hatte. Juliette bediente ihn. Sie hatte das Wasser im Kessel gewärmt, in den Badetub geschüttet, das Frottiertuch zurechtgelegt und jenen Schlafanzug vorbereitet, von dem sie wußte, daß Gabriel ihn den anderen vorziehe. Während er sich abrieb, blieb Juliette vor dem Zelt. In ihrer langen Ehe hatten sie beide zu keiner Zeit die letzte Scham vor einander verloren. Die Säuberung dauerte sehr lange. Er bearbeitete seine Haut mit der harten Bürste, bis sie ganz rot wurde. Je leidenschaftlicher er in diese Tätigkeit versunken war, je unduldsamer er den heutigen Tag von seiner Haut zu striegeln suchte, umso weniger fand er sich selbst. Auch in der wunderbaren Reinheit seines Körpers, die er bald genoß, brach der »abstrakte Mensch« nicht mehr durch, als welcher er nach Yoghonoluk gekommen war. Er sah sein altes Gesicht in Juliettens kerzenflankiertem Spiegel. Und doch, in seiner Seele war etwas überdreht, unerklärlich was.
    Ihre Stimme mahnte draußen leise:
    »Bist du fertig, Gabriel? Darf ich hinein?«
    Und sie kam, gehorsam, wie er sie noch nie gesehen hatte, ohne Selbstbehauptung, demütig, und doch wieder aus dieser Demut hervorlauernd:
    »Wir wollen das Wasser hinaustragen«, sagte sie dienstfertig, ohne irgend jemand von der Dienerschaft zu rufen. Sie schleppten die Gummiwanne hinter das Zelt und entleerten sie. Gabriel spürte an Juliette eine weiche Bereitschaft. Sie war ihm in tiefer Erregung entgegengekommen, sie hatte für ihn gesorgt und es nicht geduldet, daß eine andre Hand ihm diene. Vielleicht war die Stunde jetzt gekommen, daß sich das Fremde in ihr seinem Wesen einschmolz, so wie er dort drüben in Paris seine Fremdheit ihr unterworfen hatte. Wie lange noch, fragte er sich. Denn seit dem heutigen Siege glaubte er nicht mehr an Rettung. Er verschnürte den Zelteingang. Sanft zog er Juliette aufs Bett. Sie lagen aneinandergeschmiegt, wortlos. Juliette zeigte eine neue verehrende Zärtlichkeit. Ihre Augen verhielten die Tränen nicht, als sie zitternd immer wiederholte:
    »Ich habe solche Angst um dich gehabt …«
    Er sah sie mit fernem Blick an, als verstünde er ihre Sorge nicht. Wie sehr er sich auch dagegen wehrte, seine Gedanken wurden von rauhen Mächten fortgerissen, hinaus in die Stellung. Wenn nur die Wachen sich heute nicht gehen lassen, einschlafen oder die Ablösung versäumen! Wer weiß, ob die Türken nicht einen nächtlichen Überfall planen! Gabriel gehörte nicht mehr Juliette und nicht mehr sich selbst. Er versuchte sein fliehendes Wesen zu sammeln. Schweiß drang ihm aus den Poren. Als er Julietten ganz nahe kam, konnte er ihr seine Liebe nicht beweisen, das erstemal in ihrer Ehe.
    Das Siegesfest in der Stadtmulde währte bis gegen Morgen. Es wurde mehr Harisa gegessen und Wein getrunken, als das Komitee für innere Ordnung gestattet hatte. Ter Haigasun aber drückte ein Auge zu. Der Held dieser Nacht war Tschausch Nurhan. Man verlieh ihm den Ehrennamen »Elleon«, das ist der Löwe. Dieses griechische Wort war als Auszeichnung für tapfere Männer aus ältesten Zeiten überliefert.

Zweites Kapitel Die Taten der Knaben
    Die vernichtende Niederlage der kriegsstarken Kompagnie auf dem Musa Dagh rief im Hükümet von Antiochia die peinlichste Bestürzung hervor. Sie war und blieb ein Schandfleck auf dem türkischen Schilde. Die

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