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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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zweiter Zug in Schwarmlinie, mir nach!« Der rangälteste Zugsoffizier wies mit dem Säbel in die entgegengesetzte Richtung und echote: »Dritter, vierter Zug in Schwarmlinie, mir nach!« Die Türken hatten demnach nicht einmal Klarheit darüber, ob sich das Flüchtlingslager auf dem Damlajik oder auf den nördlichen Höhen des Musa Dagh befand. Die Armeniersöhne standen bis zur Herzhöhe im Graben. Die aufgeworfene Böschung davor, in deren Scharten die Gewehre auflagen, war unsichtbar gemacht, ebenso die ausgehauenen Sichtlinien im Buschwerk und Knieholz, das die Lehne übersäte. In breiter Schwarmlinie strebten die nichtsahnenden Türken die Höhe empor. Der erste Graben war so glänzend maskiert, daß er nur von einem weit höheren Standpunkt wäre einzusehen gewesen, diesen aber gab es nicht, außer in den höchsten Baumwipfeln der Gegenhöhe. Gabriel Bagradian hob die Hand und zog alle Augen an sich. Die Türken kamen in dem Gestrüpp nur langsam vorwärts. Der Hauptmann hatte sich eine neue Zigarette angezündet. Plötzlich stutzte er und blieb stehn. Was bedeutete dieser Erdaufwurf dort? Erst nach einigen Sekunden durchblitzte es ihn, das ist ein Schützengraben. Diese Tatsache aber schien ihm so unglaubwürdig zu sein, daß er noch einmal Zeit verstreichen ließ, ehe er aufbrüllte: »Nieder! Deckung suchen!« Zu spät. Der erste Schuß war bereits gefallen, und zwar ehe Bagradian noch die Hand gesenkt hatte. Die Armenier schossen bedächtig und sicher, einer nach dem anderen, ohne jede Erregung. Sie hatten Zeit zum Zielen. Jeder wußte, daß keine einzige Patrone verschwendet werden dürfe. Da ihre Opfer nur wenige Schritte von ihnen entfernt in völliger Betäubung erstarrt waren, ging auch kein einziger Schuß verloren. Der dicke Hauptmann mit dem gutmütigen Gesicht brüllte noch einigemal: »Nieder! Decken!« Dann schaute er unendlich erstaunt zum Himmel auf und setzte sich hin. Die Brille fiel ihm von der Nase, ehe er zur Seite sank. Jäh löste sich der Bann von den türkischen Soldaten. Sie flüchteten, wild schreiend, in den Sattel hinab, viele Tote und Verwundete zurücklassend, darunter den Hauptmann, einen Zugsoffizier und drei Onbaschis. Gabriel schoß nicht. Ihm war plötzlich leicht und schwebend zumute. Die Wirklichkeit um ihn wurde so unwirklich, wie sie es in ihren wirklichsten Verdichtungen immer ist.
    Die Türken brauchten sehr lange, um sich zu erfangen. Die Offiziere und Unteroffiziere hatten schwere Mühe, die Flucht aufzuhalten. Sie mußten mit flacher Säbelklinge und Gewehrkolben die Jammernden zurückjagen. Inzwischen wurden die beiden Züge, die vom Feuer nichts abbekommen hatten, vorgetrieben. Doch anstatt zuerst eine wirksame Angriffslinie zu finden, suchte die neue Schützenreihe an den ungeeignetsten Punkten hinter Büschen und Steinblöcken Deckung, ohne auch nur die Ahnung des Armeniergrabens vors Korn zu bekommen. In die Sträucher und Legföhren entlud sich ein sinnlos tolles Geknatter und Geknalle, das nicht den geringsten Schaden anrichtete. Nur manchmal sang ein Geller über die Köpfe der Verteidiger hinweg. Gabriel Bagradian ließ folgenden Befehl den Graben entlang laufen: »Nicht schießen! Gut decken! Warten, bis sie wiederkommen!«
    Zugleich sandte er in die Seitenstellungen Botschaft, wer es wage, einen Schuß abzugeben oder auch nur sein Gesicht zu zeigen, werde als Verräter behandelt werden. Kein Türke dürfe vom Vorhandensein der Sicherungsriegel die leiseste Ahnung haben. Die armenische Sattellehne lag ausgestorben wie vorher. Die Verteidiger schienen durch das rasende Türkenfeuer alle ums Leben gekommen zu sein. Nach einer Stunde dieser wüsten Munitionsverschwendung versuchte die Kompagnie in vier tollkühnen Wellen einen neuen Sturm. Die Armenier, jetzt noch weit sicherer als das erstemal, ließen die Wellen wieder nahe herankommen, ehe sie ihnen abermals den Untergang bereiteten, noch blutiger und entsetzlicher als früher. Jetzt konnten die Chargen der Flucht nicht mehr Halt gebieten. Im Nu war der Sattel leergefegt. Nur das Zetern der Verwundeten stieg aus dem Unterholz. Schon wollten einige der Armeniersöhne aus dem Graben klettern. Bagradian brüllte sie an, niemand habe Befehl erhalten, seinen Posten zu verlassen. Nach einiger Zeit wagten sich türkische Sanitätsmänner mit Tragbahren zwischen den Bäumen vor und begannen mit einer Rotenmondfahne zu winken. Gabriel Bagradian schickte ihnen Tschausch Nurhan ein paar Schritte entgegen. Dieser

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