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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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die Schwarzseher sich solcher Gedanken vermaßen, war es für die Optimisten nahezu selbstverständlich, daß die Türken nach der auskömmlichen Belehrung den Angriff nicht wiederholen würden, und daß für absehbare Zeit wenigstens das Leben des Armenierstammes vom Musa Dagh gerettet war.
    Doch nur die »politischen Köpfe« machten sich in diesen glorreichen Stunden Gedanken über die Zukunft. Die große Masse verfiel in einen unbeschreiblichen Rausch. Als die Ordonnanzen der Jugendkohorte atemlos wie Marathonläufer die Siegesnachricht brachten, versammelte Ter Haigasun die Muchtars, die Priester und jene Lehrer um sich, die nicht unter den Kriegern waren, und zog mit ihnen an der Spitze des ganzen Volkes dem Schlachtfeld entgegen. Gabriel Bagradian hatte indessen mit Tschausch Nurhan, Awakian und den Gruppenführern die Dienstordnung für die Nacht festgelegt. Alle Zehnerschaften, die im Kampfe gestanden waren, wurden von den Männern des zweiten Grabens abgelöst. Sie durften einen Urlaub von vier- undzwanzig Stunden bei den Ihren in der Stadtmulde verbringen. Tschausch Nurhan duldete es aber nicht, daß die siegreichen Truppen »wie ein Sauhaufen von Zivilisten« in das Lager heimkehrten. Unerbittlich ließ er die Müden in langer Front antreten, teilte die Glieder ab und schuf eine eindrucksvolle Marschsäule, die sich bei Sonnenuntergang unter Trommellärm und den barbarischen Rufen seines Kornetts auf die Stadtmulde hinbewegte. Doch als in der Wegmitte das Kriegsvolk auf das Lagervolk stieß, da konnte es nicht einmal dieser alte Kommißknopf verhindern, daß sich die schöne Ordnung in einen regellosen Taumel löste. In diesem Augenblick kam über Gabriel eine ganz sonderbare Abspannung. Ihm war es, als ob es drei Bagradians gebe, den traulich altgewohnten Bagradian, einen neuen Bagradian, der sich wie ein Hochstapler mit grausigen Dingen abgab, die gar nicht zu ihm paßten, und einen dritten Bagradian, den eigentlichen und wahren. Dieser aber wankte ohne Körper und ohne Heimat zwischen den beiden anderen. So betäubt war dieser wahre Bagradian, daß er die Worte gar nicht auffassen konnte, die Ter Haigasun an ihn richtete: »Nicht nur der Mut unserer Männer … Ihr Verteidigungsplan … Seit vielen Wochen schon … Scharfsinnige Arbeit … Dem wir es danken … Die strenge Zucht hilft uns weiter … Die Gnade verdienen …« Gabriel Bagradian fühlte sich in der Mitte eines großen Vorgangs. Es war alles eher als ein wilder Jubel, was ihn umwogte, es war auch kein allgemeines Schluchzen, sondern eine wundersame Mischung von beidem, etwas Salzig-Süßes, aus erschütterten Tiefen hervorgeströmt. Tausend Körper drängten sich an ihn heran, sehnsüchtig, den seinen zu berühren. Weich hingehaltene Frauengesichter. Geneigte Mädchenstirnen. Alle Weiber hatten ihren Münzenschmuck angelegt, der klingelte und klapperte. Hände und immer wieder Hände, die nach den seinen haschten, und Lippen, die sie berührten. Wie überirdische Müdigkeit war das, wie Auslöschen. Ein unauflösliches Stimmengewirr dankte ihm mit hundertfachen Segenssprüchen. Er hatte sie nicht nur hinausgeführt aus dem Lande der Vertreibung, er hatte sie vor dem Tod in der Wüste bewahrt. Jetzt aber gab er ihnen eine unermeßliche Hoffnung, ja die Gewißheit des Lebens.
    Eine kurze, aber ganz und gar mythologische Weihe. So mußte es gewesen sein, wenn in tiefer Vorzeit ein Stamm seinen König erkor, nicht den stärksten und rauhesten Mann, sondern einen, der schon Väter mit erinnerungsreichen Namen besaß, einen Verfeinerten, dem man nicht nahe kam, wenn man ihm nahte, einen schon Halbfremden, der selbst in der innersten Mitte außen stand, einen Unbegreiflichen, der in seiner Härte weich war und in seiner Weichheit hart. In Gabriel aber lebte keine Freude, sondern nur das Gefühl einer traumhaften Peinlichkeit. Er wußte nichts von einem besonderen Verdienst. Jeder andere Kriegsteilnehmer hätte den Damlajik in denselben Verteidigungsstand gesetzt. Nicht Scharfsinn, sondern die natürliche Bodenbeschaffenheit hatte den Sieg davongetragen. Die grauen Köpfe der Muchtars schwankten vor seinem Gesicht. Auch diese widerspenstigen Bauern, die gegen ihn, den Ausländer, sich immer spröde verhalten hatten, griffen nach seiner Hand, um sie wie die Hand eines Vaters zu küssen. Dieses Händeküssen war ihm entsetzlich. Seine Rechte kämpfte einen verzweifelten Kampf. Am liebsten hätte er sie in der Tasche versteckt. Langsam

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