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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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als könne er die Sprache dieser Menschen überhaupt nicht mehr verstehen. In den Nächten jedoch erhob er sich oft von seinem Lager und setzte sich vor das Regierungsgebäude. Er blinzelte zu dem ewigen Licht hin, das unter dem Altarbild brannte, zu den beiden Petroleumlampen, die den Platz erhellten, er lauschte in die Laubhüttengassen hinein, aus denen Schlafgeräusche drangen. Alle halbe Stunden kam die Patrouille der Nachtwache und begrüßte den Apotheker. Dieser aber gab keine Antwort, sondern schüttelte unablässig den Kopf. Es schien die Gebärde einer unendlichen Verwunderung zu sein, die gar nicht mit sich fertig werden kann, war aber in Wirklichkeit das erste Anzeichen eines bedenklichen Körperverfalls.
    Man sieht demnach, und man sieht es nicht ohne Rührung, daß diese winzige Menschheit von fünftausend Seelen den langen Weg der Zivilisation in einem Katzensprung wiederholte. Sie war hier oben von allen Mitteln nahezu entblößt angekommen. Das bißchen Petroleum, ein paar Kerzen, die notwendigsten Werkzeuge, das war alles, woraus ihre Kulturerbschaft bestand. Der erste Wolkenbruch schon hatte den armseligen Haufen von Decken, Betten, Laken, Matten verwüstet, das einzige, was sie noch an häuslichen Bequemlichkeiten besaßen. Und doch, nicht der allseitig unabwendbare Tod, nicht die niedrigste Notdurft vermochte es, in ihnen die göttlicheren Bedürfnisse auszulöschen, die Sehnsucht nach Religion, nach Ordnung, nach Vernunft und geistigem Wachstum. Ter Haigasun las die Messe an Sonn- und Feiertagen wie immer. Auf der Schulhalde wurde Unterricht für die Kinder gehalten. Bedros Altouni, der Siebzigjährige, und Mairik Antaram hatten den Lazerettschuppen musterhaft in Stand gesetzt und rauften mit allen übrigen Führerstellen, um für ihre Kranken die besten Nahrungsmittel zu ergattern. Im Hinblick auf die Lebensgewohnheiten des Tals hatte sich die allgemeine Moral sogar gehoben. Auf den abgemagerten und blassen Gesichtern lag eine gewisse Zufriedenheit. Der lange Augusttag hatte nicht Stunden genug, soviel Pflichten gab es zu erfüllen. Schon um vier Uhr morgens begann die erste Arbeit. Die Melkerinnen zogen auf den Platz, wo die Hirten bereits die Geißen und Mutterschafe zusammengetrieben hatten. Die Milch wurde dann in großen Gefäßen an die westliche Grenze der Stadtmulde geschafft, wo Mairik Antaram schon wartete, um die Verteilung an die Familienmütter, das Lazarett und die Käserei vorzunehmen. Zur selben Zeit pilgerten Frauen und Mädchen in langen Zügen zu den nahe fließenden Quellen, um ihre großen Tonkrüge mit dem frischen Quellwasser zu füllen, das in diesen Gefäßen auch bei der größten Sonnenglut eiskalt blieb. Die zahlreichen Quellen mit ihrem herrlichen Wasser bildeten eine der größten Segnungen, die der Musa Dagh seinen Kindern spendete. Während die Züge mit den Wasserträgerinnen heimkehrten, begaben sich die sieben Muchtars auf die Schafweiden, um das Schlachtvieh für den Bedarf des nächsten Tages auszuwählen. Was den Fleischverbrauch anbelangt, so machten sich allerdings frühzeitig sehr bedrohliche Anzeichen fühlbar. Ein Fettschwanzschaf ergab in diesen Gegenden trotz doppelten Lebendgewichtes weniger als zwanzig Oka oder fünfundzwanzig Kilogramm eßbaren Fleisches. Da über fünftausend Menschen fast ausschließlich von diesem Fleische leben mußten, darunter sehr viele schwer arbeitende, kam eine tägliche Stückzahl von ungefähr fünfundsechzig zu schlachtenden Schafen heraus, wollte man die Zehnerschaften und die Arbeitsreserve wirklich sättigen. Wie lange aber war bei dermaßen erschreckender Herdenverminderung das Leben auf dem Berge möglich? Dies konnte sich jeder selbst ausrechnen. Ter Haigasun und Pastor Aram Tomasian erließen schon am dritten Sonntag eine scharfe Verordnung, laut derer von den Schlachttieren nichts mehr, auch die Eingeweide nicht, fortgeworfen werden durfte. Zugleich wurde die tägliche Zahl auf fünfunddreißig Schafe und zwölf Ziegen herabgesetzt. Damit aber waren andere, das Schlachttier betreffende Gefahren, noch keineswegs behoben. Da durch die Stadtmulde, die außerhalb ihrer befindlichen Lageranstalten und nicht zuletzt durch den Stellungsbau sehr viel Weidegrund verloren gegangen war, zeigte sich schon in den ersten Tagen an den Herden ein beträchtlicher Gewichtsverlust. Niemand aber wagte es, die Hirten mit ihren Tieren auf die Triften jenseits des Nordsattels zu schicken. Der Schlachthof war in der Nähe eines

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