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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nach dem Erwachen und vor dem Schlafengehen bei ihm zu melden, wo immer er sich auch in diesen Stunden aufhalte. Awakian bekam Auftrag, die Jungen fortan schärfer im Auge zu behalten.
     
    Gabriel Bagradian hatte die Schonzeit, die ihm die Türken gewährten, nicht müßig verstreichen lassen. Man konnte nun wirklich sagen, daß die Verteidigungswerke auf einen vollgültigen Stand gebracht waren. Die Männer der Zehnerschaften und die Arbeiter der Reserve hatten in dieser Woche nicht weniger schuften müssen als in den Tagen vor dem vierten August. Die Stellungsgräben waren nun alle verlängert und vertieft, das Vorfeld durch Hindernisse gesichert. Zu den zweiten Gräben führten Verbindungsgänge, ebenso zu den vorgeschobenen Nestern, die mit Zweigen bedeckt waren, um den tapfersten Schützen Gelegenheit zu geben, den Angreifern in den Rücken zu fallen oder die Stolpernden niederzumachen. Gabriel zerdachte sich unablässig den Kopf, um an allen dreizehn Einfallspunkten Listen, Kunstgriffe und Fallen der Verteidigung zu erfinden, die den Ausgang des Kampfes immer weniger von der menschlichen Zuverlässigkeit abhängig machen sollten. Seine flüchtig erworbenen Kenntnisse aus der Offiziersschule in Stambul und seine Erfahrungen aus den Artilleriekämpfen von Bulaïr halfen ihm weniger dabei, als ein altes taktisches Lehrbuch des französischen Generalstabs, das er einmal der Kuriosität halber bei einem Antiquar erstanden hatte. Angesichts dieses Buches, das nun zu so unerwarteten Ehren kam, beschlich Gabriel ein sonderbar philosophisches Gefühl (kein rechter Gedanke): Diese Taktik habe ich seinerzeit nichtsahnend gekauft, nur weil mir das Titelblatt gefiel, oder weil mich der unbekannte Stoff anzog, obgleich mich Militärwissenschaft damals gar nicht interessiert hat. Und doch, in jener Stunde des Kaufes hat mein Schicksal, ganz unabhängig von meinem Willen, vorbewußt aus mir gehandelt. Ja, dieses mein Kismet scheint wirklich fix und fertig zu sein von A bis Z. Denn schon im Jahre 1910 hat es mich vor der alten Buchhandlung am Quai Voltaire nur deshalb festgehalten, weil es dieses Buches für seine späteren Zwecke bedurfte. Ich war also nur der Schauspieler meines Kismets, wie wenn etwa Coquelin als Marquis in der Komödie seine Handschuhe auf dem Tisch vergißt, und dann wird er, rückkehrend, Madame mit ihrem Geliebten ertappen. Nur weiß Coquelin zwischen sich und dem Marquis einen Unterschied zu machen. Bei mir aber fällt mein Selbst mit der Rolle allzufest zusammen.
    Dies war übrigens die einzige philosophische Träumerei, die Gabriel Bagradian seit Wochen unterlief. Er schüttelte sie auch sogleich wie etwas Lästiges ab. Schon während seiner Kampfvorbereitungen in Yoghonoluk hatte er bemerkt, daß sich sein Tatsachensinn sofort trübte, wenn er seiner Neigung zu Beschaulichkeit nachgab. Er kam somit zu der Erkenntnis, daß der echte Tatmensch (der er nicht war) notwendig geistlos sein muß. Was aber das taktische Lehrbuch anbetraf, so fand er darin eine Anzahl von Warnungen, Hinweisen, Zeichnungen, Rechenexempeln, die er in kleinem Maßstab auf die gegebenen Verhältnisse anwenden konnte. Tschausch Nurhan Elleon und die Unterführer hielten mit den Zehnerschaften täglich die strengsten Übungen ab. Gabriel Bagradian stellte in den einzelnen Abschnitten die vielfältigsten Manöveraufgaben, damit jeder Einzelne sich mit jeglichem Stein und Strauch vertraut mache und für alle nur möglichen Angriffsfälle die entsprechende Gegenwehr schon vorgesehen sei. Auch die Alarmmaschine war nun bereits auf das Äußerste verfeinert. Innerhalb einer knappen Stunde konnten trotz der ziemlich großen Entfernungen alle Posten besetzt, umbesetzt und die größten Mannschaftsverschiebungen durchgeführt werden.
    Nicht minder erstaunlich aber muß das in der Stadtmulde geleistete Werk genannt werden. Pastor Tomasians Leidenschaftlichkeit hatte sich gegen die Fülle der kleinen Zwiste, gegen die Gehässigkeiten der engen Nachbarschaft, gegen das Unbehagen an der Gemeinschafts-Ernährung, sowie gegen den versteckten Widerstand und die Verschlafenheit der Muchtars siegreich behauptet. Wiederum war es ein abendländischer Mann (drei Studienjahre in Genf), der Gabriels Kampf gegen östliches Geschehenlassen so erfolgreich unterstützte. Ohne Zweifel bedeutete Ter Haigasun die unvergleichlich stärkere Persönlichkeit als der ausgezeichnete Aram, und doch, der Vikar des armenischen Tales war im Norden nur bis Edschmiadsin,

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