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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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eintägiges Fasten, das heißt, er bekam seine Mahlzeit nicht ausgefolgt.
    Der Alltag, den Ter Haigasun für die neuen Lebensumstände so weise angestrebt hatte, bürgerte sich über Erwarten schnell ein. Er war jedoch von dem gemächlichen Alltag des Tales sehr verschieden und voll von Reibungen und Härten. Zu gewissen Stunden, besonders nach Feierabend, wenn die Arbeit den Sinn nicht mehr ablenkte, lastete Mißvergnügen und Gereiztheit über den Sippen. Aram Tomasian vertrat daher im Führerrat die Ansicht, man müsse den außerordentlichen Härten dieses Lebens durch gewisse Veranstaltungen das Gleichgewicht halten, um für eine kurze Abendstunde wenigstens die Seelen vom Druck zu befreien. Es wäre gut, wenn jeder zweite oder dritte Tag eine erfreuliche Abend-Erwartung in sich schlösse. Das Volk möge sich auf dem Altarplatz versammeln, damit einer der Führer zu ihm spreche, und zwar durchaus nicht über die gegenwärtige Lage, sondern über allgemeine Gegenstände der Nation und des Lebens, die den Blick in die Weite ziehen und die Herzen über sich selbst erheben. Gabriel Bagradian stimmte dem Pastor sogleich zu. Ter Haigasun aber schlug die Augen mit einem kaum merklichen Lächeln aus seiner gewohnten Versunkenheit auf. Er wies darauf hin, daß dieses schöne Vorhaben an einem allzu trockenen und belehrenden Charakter leide. Solch eine hochgespannte Rede bringe wohl den ernsten und klugen Männern, deren es jedoch nur verdammt wenige gebe, einen Vorteil, während dabei die Frauen, die Mädchen, die gesamte Jugend leer ausgehe. Gerade aber von diesem schwankenden und gefühlsbedingten Volksteil hänge die Widerstandskraft des Lagers mehr ab als von den gesetzten und vernünftigen Leuten. Man möge deshalb nach einer Reihe von plagereichen Tagen für einen Abend der einfältigen Vergnügungen und des lustigen Vergessens sorgen. Possenreißer und Geschichtenerzähler gebe es ja im Lager genug, ebenso Tanzmusikanten in großer Menge. Jeder zweite Mann zupfe ja den Tar oder die Saz-Gitarre. Auch die Kamantschageige und Flöte habe ihre Spieler, von der Handtrommel ganz zu schweigen. Die Musik sei das Geschäft Asajans, des Lehrers und Kirchenchorführers, der diese Festveranstaltungen gleich in die Hand nehmen müsse. Der zwirnsdünne Sänger erstaunte tief, daß sein Erzfeind und Peiniger Ter Haigasun ihn eines solchen Auftrags würdigte. Und er staunte noch mehr, als derselbe allen rohen Belustigungen abholde Ter Haigasun die Errichtung eines hölzernen Tanzbodens, einer Tenne, wie sie in Yoghonoluk zu solchen Zwecken verwendet wurde, nicht nur erlaubte, sondern sogar anempfahl. Ganz unerhört aber war es, daß der Priester keinen Einspruch dagegen erhob, als Vater Tomasian mit seinen Gesellen diese Teufelsbühne aus rohen Brettern am andern Ende des großen Platzes aufzuschlagen begann, und zwar genau dem heiligen Altar gegenüber. Für den nächsten Abend schon wurde das erste Tanzfest angesetzt. Der Führerrat erschien mit Ter Haigasun an der Spitze, die Notabeln alle, auch Gonzague Maris und Juliette, die Gabriel eigens darum gebeten hatte. Zuerst hielt Pastor Aram eine kurze Ansprache, in der er Gott um Verzeihung bat, daß man angesichts der grausamen Leidenszeit dem irdischen Bedürfnis nach Lustbarkeit nachgehe. Als zweiter gab Lehrer Asajan mit einer scharfen Trompetenstimme (wo doch seine Körperlichkeit bestenfalls ein hauchendes Falsett erwarten ließ) einige patriotische Lieder zum besten, darunter auch jenes flammende:
    »Hoch sind die Berge Armeniens …
    Wir fürchten nicht den Tod durch Feuer und durch Schwert.«
    Der nächste Mitwirkende in der Künstlerreihe war das Grammophon des Hauses Bagradian. Zuerst krächzte es den Krönungsmarsch aus dem ›Propheten‹ in die Abendluft, dann aber sang es leise das traurige Orchesterstück ›Aases Tod‹ von Edvard Grieg. Bei dieser Nummer sah sich die Menge, die im dichten Halbkreis die Tenne umstand, träumerisch an, als habe ihr jener Norweger das langsame Stück aus der eigenen Seele gesungen. Weniger Glück als Edvard Grieg hatte der schwerbewaffnete Hrand Oskanian, der nachher die Tribüne betrat. Er donnerte zwei pathetische Gedichte so haßerfüllt herunter, als sei er ein Anklagerichter, der mit einem Verbrecher abrechnet. Die Silben übersprangen einander so wütend, daß die wenigsten Hörer etwas verstanden. Bei dem ersten Gedicht stand die Sache noch nicht so schlimm. Es hieß ›Die armenische Wiege‹ und war den Leuten nicht

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