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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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unbekannt:
    »In einer fernen Stube schaukelt
Ein Weib die Wiege hin und her.
Von grauer Dämmerung umgaukelt,
Sinkt ihr das Haupt, von Sorgen schwer.
    Die alte Frau hält einsam Wache
Und wärmt sich an des Herdes Glut.
Sie wiegt ihr Kind, das Kind heißt Rache,
Das lautlos in der Wiege ruht.
    Ihm tönten keine Zärtlichkeiten,
Kein Lied, das süße Namen nennt.
In seinen Augen, die sich weiten,
Ein ungeheures Feuer brennt.
    So grausam flammen diese Brände,
Und dennoch lautlos weint das Kind
Und ballt zur Faust die kleinen Hände,
Zu warten, bis sie größer sind.
    Kein Ton der festversperrten Lippe
Verrät des Säuglings Todesmut,
Der hier in seiner Zedernkrippe,
Ein neuer Herr und Heiland ruht.«
    Der Schweiger aber begnügte sich leider nicht mit diesem berühmten Poem des Dichters Waruschan, hielt er sich doch selbst für einen »Aschugh«, einen Volksbarden. Er beglückte deshalb sein Publikum auch noch mit einem langen Gedicht eigener Mach-Art, das den einzigen Vorzug hatte, trotz seiner vielen Strophen wie ein wilder Platzregen nieder und vorbei zu gehn. Als kein Beifallszeichen der verdutzten und verständnislosen Menge des Barden Ohr berührte, hob er sein Mausergewehr, ob grüßend oder dräuend wurde nicht klar, und verließ stolz den Schauplatz, um den Musikanten Platz zu machen.
    Nun begann der bessere Teil des Festprogramms. Erst zierten sich die jungen Leute, bald aber traten einige Paare zum Tarz Bar und Polor Bar an, zu den heimischen Berg- und Stampftänzen. Später zog Gabriel auch Juliette unter die Tänzer, um mit ihr ein paar Schritte zu versuchen. Nach einer Minute schon bat sie ihn aufzuhören, denn diese Art Tanz verstehe sie nicht. Auch Gonzague Maris und Hrand Oskanian erhielten von ihr einen Korb. Letzterer fand Trost darin, daß er sich in diese Ablehnung mit dem »Eleganten« teilen durfte. Iskuhi aber tanzte mit Gabriel einen ganzen Polor Bar zu Ende. Sie sah in dem zuckenden Schein des Feuers heiter und rosig aus, obgleich sie niemals noch unter ihrem Gebrechen so sehr gelitten hatte, wie während dieses Tanzes. Gabriel kehrte dann sehr bald in die Nordstellung zurück, und auch die Frauen gingen nach Hause. Das Volk aber blieb noch lang und warf immer neue Nahrung in das Feuer. Unter den Tänzern ragte sonderbarerweise Sarkis Kilikian, der Russe, als ein Meister hervor. Trotz seines wenig einladenden Äußeren wurde er von den Mädchen als Partner begehrt. Er tanzte mit geschmeidigen und erfinderischen Gliedern, während sein jugendlicher und lebenssatter Totenkopf mit feierlicher Wurstigkeit über den Tänzerinnen schwebte. Der schwachsinnige Kework drehte sich selbstversunken zwischen den Paaren. Er hatte diesmal keine Sonnenblume, sondern einen abgerissenen Myrthenzweig in der Hand.
     
    Dies ist, mit groben Strichen gezeichnet, das Leben, wie es sich in den ersten vierzehn Tagen des Musa Dagh abspielte. Im Keime war alles vorhanden, was das Leben der ganzen Menschheit ausmacht. Unser Volk befand sich in einer Einöde, ausgesetzt im leeren Raum. Der Tod umgab es fugenlos, und nur Schwärmer konnten auf eine Erlösung von dem Tode hoffen. Des Volkes kurze Geschichte entwickelte sich nach dem Naturgesetz des geringeren Widerstands. Dieses Gesetz hatte ihm auch die gemeinschaftliche Lebensform aufgezwungen, in die sich die meisten wohl oder übel fügten, obgleich sie die freie Selbstverköstigung dem Zwange weit vorzogen. Die Reichen aber, zuvörderst die schwergeschädigten Herdenbesitzer, litten tief unter der Entziehung ihres Eigentums. Die klare Überzeugung, daß sie auf dem Wege der Verschickung nicht nur ihr Eigentum, sondern auch ihr Leben viel früher würden verloren haben, half ihnen dennoch nicht über die Bitterkeit der Verarmung hinweg. Auch jetzt, da doch die Lebensdauer nur mehr eine Frage von Wochen oder Tagen war, taten diese Personen alles, um sich von der grauen Masse durch eine begünstigte Lebensform wenigstens dem Scheine nach zu unterscheiden. Trotz der schweren Anforderungen, die der Tag stellte, war die Sehnsucht des Volkes nach Vergessen, nach Genießen, ja sogar nach Geist ebensowenig zu unterdrücken wie in allen anderen Menschenstädten der Welt. Es gab einen Mann wie den Apotheker Krikor, desgleichen sich gewiß nicht überall fand, einen großen Stoiker, der unter dem blutigen Schwerte noch seine allumfassende Wissenschaft weniger aus der geliebten Bücherei als aus dem fruchtbaren Nichts schöpfte. An den Rändern der Einöde waren

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