Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
im Westen nur nach Stambul, im Süden nur nach Jerusalem gekommen, und daher nicht ganz frei von jener Empfindungsstumpfheit gegen abschaffbare Unbill, die dem Europäer das Leben im Morgenlande so gründlich erschwert. Trotz seiner erprobten Macht über die Gemüter hätte Ter Haigasun vielleicht das Werk Aram Tomasians nicht so schnell vollbracht und im Laufe von zehn Tagen das elende Freilager der Stadtmulde in eine Siedlung verwandelt, die immerhin einem Marktflecken zu Zeiten Abrahams und der Erzväter ähnelte. Jede Familie, ob arm, ob reich, besaß nun ihre wohlgedeckte Laubhütte, ein paar Quadratmeter wettergeschützten Bodens, durch Teppiche, Matten, Bettzeug wohnlich gemacht. Dieses blasse Echo eines Heims genügte schon, die Menschen in den wichtigen Gefühlswahn einzulullen, auch hier oben würden ihre irdischen Verhältnisse dauernden Bestand haben. Das Lager war nicht nur in einzelne Gemeindequartiere geteilt, die Hütten bildeten sogar ganze Straßenzüge, die alle in den großen Altarplatz einmündeten. Die Bodenfläche der Stadtmulde war uneben und höckerig, doch der Siedlungsbau und die Wege waren so angelegt, daß dieses Auf und Ab ziemlich gemildert schien. Der Altarplatz, der Mittelpunkt dieser primitiven, aber starkbevölkerten Ortschaft machte einen geradezu stattlichen Eindruck. Nachdem Muchtar Thomas Kebussjan die Errichtung seines hölzernen Gemeindehauses durchgesetzt hatte, gaben seine sechs Kollegen nicht früher Ruhe, bis auch sie, als nicht weniger würdige Gemeindehäupter, das Recht erhielten, ähnliche Blockhäuser auf den Altarplatz hinzusetzen. Das schönste Werk Vater Tomasians aber war und blieb die große Regierungsbaracke, die nicht nur wirkliche Fenster und Türen besaß, sondern auch mit Schindeln gedeckt war, die aus den Vorräten des Baumeisters stammten. Die Festigkeit des Gebäudes konnte als Sinnbild jener kühnen Hoffnung gelten, welche die Verteidiger erfüllte. Es bestand aus drei Räumen, einem großen Mittelzimmer, dem Sitzungssaal, und zwei kleinen Seitenkammern. Die rechte Seitenkammer war durch eine feste Wand vom Sitzungsraum abgetrennt. Diesem Kotter war die Rolle des Staatsgefängnisses zugedacht, für den Fall, daß man sich eines schweren Übeltäters entledigen mußte. Ter Haigasun aber war der Überzeugung, diese Armesünderzelle werde sich als überflüssig erweisen. Die linke Kammer war dem Apotheker Krikor zugewiesen. Krikor hatte zwischen sich und der Politik eine Bücherwand mit einem schmalen Durchgang aufgebaut, jenseits derer sein Bett stand. Seine schmuckhaften Tiegel, Vasen und Retorten hatte er auf Wandbrettern untergebracht, während Petroleumkannen, Tabakballen und Bürstenbinderwaren zu seiner großen Genugtuung fehlten, da sie dem allgemeinen Volksgut einverleibt worden waren. Die Regierungsbaracke vereinigte demnach nicht nur den Charakter eines Parlaments, Ministeriums und Gerichtshauses, sondern auch den einer Bibliothek und Universität. Denn hier empfing Apotheker Krikor seine Jünger, die Lehrer, um sie seinerseits zu belehren. Von Tag zu Tag seltener verließ der Meister sein Gehäuse. Vielleicht wollte er die große Gefangenschaft auf dem Damlajik dadurch aufheben, daß er sie für seine Person noch enger beschränkte. Vielleicht auch wollte er die ganze Lebensveränderung damit ungeschehen machen, daß er sie aus seinem Augenkreis bannte. Er saß stundenlang starr auf seinem Bett, nur hie und da ein Buch aus der Wand nehmend, um es vorsichtig gleich wieder zurückzustellen. Sein Körper krümmte sich sichtbar zusammen. Die Lehrer, die nun wichtige Amtswalter waren, besuchten ihn nur selten. Kamen sie aber, enttäuschte sie der Meister immer bitterer, denn er vermehrte ihr Wissen nicht mehr durch unerhörte Tatsachen aus der allgemeinen Weltkunde, sondern tischte ihnen dunkle Geschichten mit tiefsinniger Moralität auf, die sie schnell wieder aus seiner Nähe vertrieben. Hrand Oskanian faßte deswegen sogar eine heftige Abneigung gegen den ehemals Hochverehrten, was mehr für sein dermaliges Krieger- als für sein einstiges Dichtertum sprach. »Der Alte ist nicht mehr ganz bei sich«, meinte er wegwerfend zu dem Kollegen Schatakhian, der aber den Geschmähten erbittert verteidigte. Während der großen und kleinen Führerberatungen verließ der Apotheker, obgleich er doch zu den Gewählten gehörte, seine Seitenkammer nicht, aber schaute mit seinem gelben Mandarinengesicht aus erstaunten Schlitzaugen in den Sitzungssaal hinüber,

Weitere Kostenlose Bücher