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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Urzeit da. Das Lichtchen unter der Madonna in der Treppennische. Sonst gehörte alles der Epoche des jüngeren Awetis an. Dies aber war, was zumindest die Treppenhalle anbelangt, ein Zeitalter der Jagd und des Krieges. Trophäen und Waffen hingen an den Wänden, eine ganze Sammlung altertümlicher Beduinenflinten mit endlosen Läufen. Daß der Sonderling aber nicht nur ein Mann der rauhen Leidenschaft gewesen, das bewiesen ein paar herrliche Stücke, Schränke, Teppiche, Leuchter, die er von seinen Fahrten heimgebracht hatte und die das Entzücken Juliettes bildeten.
    Während Gabriel in seiner Benommenheit die Treppe zum Stockwerk hinanstieg, hörte er kaum den Stimmenklang, der aus den unteren Räumen kam. Die Notabeln von Yoghonoluk waren schon versammelt. In seinem Zimmer stand er lange am offenen Fenster und starrte regungslos auf die schwarze Silhouette des Damlajik, die sich um diese Stunde gewaltig aufplusterte. Nach zehn Minuten erst läutete er dem Diener Missak, den er gleich dem Verwalter Kristaphor, dem Koch Howhannes und dem übrigen Haus- und Wirtschaftspersonal nach dem Tode des Bruders in seine Dienste übernommen hatte.
    Gabriel wusch sich von Kopf bis zu Füßen und kleidete sich um. Dann ging er in Stephans Zimmer. Der Junge war bereits zu Bett gegangen und schlief so kindlich fest, daß ihn nicht einmal der bissige Strahl der Taschenlampe erwecken konnte. Die Fenster standen offen und draußen bewegten sich die Laubmassen der Platanen mit ahnungsvoller Langsamkeit. Auch hier blickte die schwarze Wesenheit des Musa Dagh in den Raum. Nun aber war die Kammlinie des Berges sanft aufgeglommen, als verberge er anstatt des Wasser-Meeres ein Meer von jenseitigleuchtendem Stoff hinter seinem Rücken. Bagradian setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Und wie am Morgen der Sohn den Schlaf des Vaters belauscht hatte, so belauschte der Vater jetzt des Sohnes Schlaf. Dies aber war erlaubt.
    Die Stirne Stephans, Gabriels eigene Stirn, schimmerte durchsichtig. Darunter lagen die Schatten der geschlossenen Augen wie zwei Blätter, von draußen auf dieses Antlitz geweht. Wie groß diese Augen waren, sah man auch jetzt, da sie schlummerten. Die spitze schmale Nase gehörte dem Vater nicht an, war Juliettes Erbteil, fremd. Stephan atmete schnell. Die Wand seines Schlafes verbarg ein rauschendes Leben. Die zu Fäusten geballten Hände drückte er fest gegen seinen Körper, als müsse er die Zügel anziehen, damit ihm die galoppierenden Traumerlebnisse nicht durchgingen.
    Der Schlaf des Sohnes wurde unruhiger. Der Vater rührte sich nicht. Er sog sich voll mit dem Bild seines Kindes. Hatte er Angst um Stephan? Wollte er eine Einheit herstellen, die einst in Gott lag? Er wußte nichts. Keine Gedanken waren in ihm. Endlich stand er auf, wobei er einen Seufzer nicht unterdrücken konnte, so zerschlagen fühlte er sich. Während er sich unsicher hinaustastete, stieß er gegen den Tisch. Die Nacht übertrieb den kurzen Lärm. Gabriel stand still. Er fürchtete, Stephan geweckt zu haben. Die schlaftrunkene Knabenstimme lallte auch aus dem Dunkel:
    »Wer ist hier? … Papa … du …«
    Sogleich aber wurden die Atemzüge wieder ruhig. Gabriel, der die Taschenlampe sofort ausgeschaltet hatte, knipste sie nach einer Weile wieder an, wobei er das kleine Licht mit der Hand abblendete. Es fiel auf den Tisch und auf einige Zeichenblätter. Siehe, Stephan hatte sich schon an die Arbeit gemacht und auf des Vaters Wunsch ein Croquis des Musa Dagh mit ungelenker Hand entworfen. Die roten Verbesserungen Awakians durchkreuzten reichlich die Linien. Bagradian erinnerte sich zuerst der Anregung gar nicht, die er bei dem morgendlichen Zusammentreffen dem Jungen gegeben hatte. Dann aber empfand er den stürmischen Eifer, mit dem das Kind ihn suchte und überzeugen wollte. Der kritzlige Entwurf wurde zum Sinnbild.
     
    Vor dem großen Empfangszimmer der Villa Bagradian zu Yoghonoluk befand sich ein großer Raum, der an die Treppenhalle grenzte. Er war ziemlich kahl und wurde nur als Durchgangszimmer benützt. Awetis, der Alte, hatte seine Residenz für eine zahlreiche Nachkommenschaft berechnet, sodaß sowohl der einsame Sonderling als zuletzt die kleine Familie, die übrig geblieben war, nur einen Teil der vorhandenen Wohnräume in Verwendung nehmen konnte. In dem kahlen Durchgangszimmer brannte eine herabgeschraubte Petroleumlampe. Gabriel blieb einen Augenblick stehn und lauschte den Stimmen daneben. Er hörte Juliette lachen. Die

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