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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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setzte der verschwenderischen Virtuosität seines Gefährten Schatakhian ein durchdringendes Schweigen entgegen. Dieses Schweigen war aufgebläht bis zum Platzen. Unausgesetzt schien es darauf hinzuweisen, wo die dreiste Oberflächlichkeit und wo der wahre Wert zu finden sei. Diesmal hatte Oskanians hochgradiges Schweigen seine verwirrende Macht über Schatakhian eingebüßt. Als Gabriel in den Raum trat, hörte er das lautschallende Französisch des akzentstolzen Lehrers:
    »Oh Madame, wie müssen wir Ihnen dankbar sein, daß Sie einen Strahl der Kultur in unsere Wüste gebracht haben!«
    Juliette hatte heute einen kleinen inneren Kampf auszufechten gehabt. Es handelte sich dabei um das Kleid, das sie zum Empfang ihrer neuen Landsleute anzulegen gedachte. Bisher hatte sie sich zu dieser Gelegenheit stets besonders einfach gekleidet, denn es war ihr unwürdig oder überflüssig erschienen, diese »ahnungslosen Halbwilden« zu blenden. Doch schon das letztemal hatte sie bemerkt, daß der Zauber, den sie auf ihre Gäste ausübte, auf sie selbst zurückschlug. So widerstand sie denn der Versuchung nicht und zog ihr größtes Abendkleid hervor. (Ach, es ist vom vorigen Frühjahr, dachte sie bei der Musterung, und zu Hause dürfte ich es nicht wagen, mich darin zu zeigen.) Nach kurzem Zögern legte sie, was ja bei einer glänzenden Gewandung unerläßlich war, auch noch ihren Schmuck an. Die Wirkung ihres absichtsvollen Entschlusses, dessen sie sich anfangs ein wenig geschämt hatte, überraschte sie selbst. Eine schöne Frau unter schönen Frauen zu sein, dies ist wohl ein hochgemutes Gefühl, doch es befriedigt nicht gar lange. Man ist ja nur eine unter vielen, man spielt auf den Promenaden, in den Theatersälen und Restaurants jener fernen westlichen Welt doch nur die Rolle einer hübschen Statistin in einem riesigen Chor. Aber hier, ein unerreichtes Gnadenbild zu sein unter fremdartigen Gläubigen, ein berückendes Palladium für diese schüchtern-großäugigen Armenier, die Einzigartige, die Goldblonde, die Herrin, das ist kein alltägliches Schicksal, das ist ein Erlebnis, das die Wangen jugendlich rötet, die Lippen glühen macht und die Pupillen erglänzen.
    Gabriel sah seine Frau von demütig Geblendeten umschart, die gewiß keinen Wunsch zu ihr empor wagten. Er sah, daß ihre Wangen rot waren und daß ihre Lippen glühten wie die einer kaum Zwanzigjährigen. Wenn sich Juliette bewegte, erkannte er wieder ihren »funkelnden Schritt«, wie er ihn einst genannt hatte. Juliette schien hier in Yoghonoluk einen Weg zu seinen einfachen Volksgenossen gefunden zu haben, sie, die sich in Europa so oft gegen den Verkehr mit den gebildetsten und besten Armeniern gesträubt hatte. Und das Merkwürdigste: In Beirût von den Weltereignissen überfallen, ohne Möglichkeit zu einer Rückkehr, hatte Gabriel die Furcht gehegt, Juliette werde sich in Heimweh verzehren. Frankreich kämpfte den schwersten Krieg seiner Geschichte. Europäische Zeitungen verirrten sich in diesen Winkel nicht. Man wußte gar nichts. Man war gänzlich abgeschnitten. Auf langen Umwegen war bisher ein einziger Brief erst eingetroffen, der das Datum des Novembers trug. Von Juliettens Mutter. Es war noch ein Glück, daß sie keine Brüder besaß, um die sie hätte Sorge haben müssen. Mit ihren beiden Schwestern stand sie nur in sehr loser Beziehung. Die Ehe mit dem Fremden hatte sie von ihrer Familie entfernt. Wie dem auch sei, ihre Ruhe, ja ihr Leichtsinn kam für Gabriel ganz unerwartet. Sie lebte im Augenblick. Nur selten machte sie sich über ihre Heimat Gedanken. Im vierzehnten Jahr ihrer Ehe schien das Unerhoffte gelungen zu sein. Hier in dem Haus von Yoghonoluk. Juliette war in Gabriels Welt eingegangen. Hatte sich die alte Spannung, die sie beide verband und trennte, an diesem Abend gelöst?
    Und wirklich, es war etwas Neues in ihrem Wesen, als sie ihn umarmte:
    »Endlich, mein Freund, ich war schon sehr unruhig.«
    Sie sorgte sogleich in beinahe überschwenglicher Weise für seinen Hunger und Durst. Gabriel aber fand keine Zeit zum Essen. Alles umdrängte ihn, damit er über seine Erfahrungen in Antakje berichte. Der Muchtar Kebussjan neigte den Kopf weit vor, um kein Wort zu verlieren. Dadurch, daß er ein wenig schielte, wurde der mißtrauisch furchtsame Zug seines Bauerngesichts noch verstärkt. Man darf natürlich nicht glauben, daß die behördliche Maßnahme des heutigen Morgens spurlos an den Gemütern vorübergegangen war. Schon die

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