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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Bewunderung dieser dörflichen Armenier da drin tat ihr also wohl. Ein Fortschritt.
    Der alte Arzt Bedros Altouni öffnete eben die Tür, um sich davonzumachen. Er zündete die Kerze in seiner Laterne an und griff nach seiner Ledertasche, die auf einem Stuhl lag. Altouni bemerkte den Hausherrn erst, als dieser ihn leise anrief: »Hairik Bedros!«, Väterchen Bedros! Der Arzt schrak zusammen. Er war ein kleiner, dürrer Mann mit einem unordentlichen Graubart; er gehörte noch zu jenen Armeniern, die, anders als die jüngere Generation, auf ihren gebeugten Schultern die ganze Last des verfolgten Stammes zu tragen schienen. Als Schützling Awetis Bagradians hatte er in seiner Jugend auf dessen Kosten in Wien Medizin studiert und die Welt gesehen. Damals trug sich der Wohltäter Yoghonoluks mit großen Plänen und dachte sogar an die Errichtung eines kleinen Hospitals. Es blieb aber nur bei der Bestallung des Bezirksarztes, was angesichts der allgemeinen Verhältnisse schon überaus viel war. Von allen lebenden Menschen kannte Gabriel den alten Arzt, den alten »Hekim« am längsten, denn dieser hatte bei seiner Geburt mitgewirkt. Er besaß einen zärtlichen Respekt für den Arzt, jedenfalls ein Erbteil von Kindheitsgefühlen. Doktor Altouni mühte sich mit einem Lodenmantel ab, der noch aus seiner Wiener Universitätszeit zu stammen schien.
    »Ich konnte nicht mehr länger auf dich warten, mein Kind … Nun, was hast du im Hükümet herausgebracht?«
    Gabriel richtete den Blick auf das eingeschrumpfte Gesichtchen. Alles an dem alten Mann war schartig. Seine Bewegungen, seine Stimme, ja selbst die Schärfe, die seine Worte manchmal zeigten. Er war äußerlich und innerlich abgewetzt. Der Weg von Yoghonoluk nach Holzdorf auf der einen und nach Bienendorf auf der anderen Seite zog sich verdammt, wenn man ihn mehrmals wöchentlich auf dem harten Rücken eines Esels zurücklegen mußte. Gabriel erkannte die ewige Ledertasche, in der neben Heftpflaster, Fieberthermometer, chirurgischem Besteck und einem deutschen ärztlichen Handbuch aus dem Jahre 1875 nur noch eine vorsintflutliche Geburtszange lag. Angesichts dieser medizinischen Tasche schluckte er die Anwandlung hinunter, seine Erfahrungen in Antiochia preiszugeben.
    »Nichts Besonderes«, antwortete er wegwerfend.
    Altouni befestigte die Laterne an seinem Gürtel und schnallte ihn um: »Ich habe mir mindestens siebenmal im Leben einen neuen Teskeré erbitten müssen. Sie nehmen ihn wegen der Taxe fort, die sie bei der Neuausstellung jedesmal gewinnen. Es ist eine bekannte Sache. Von mir aber bekommen sie nichts mehr. Ich brauche auf dieser Welt keinen neuen Paß …«
    Und schartig fügte er hinzu:
    »Und früher hätte ich ihn auch nicht gebraucht. Denn seit vierzig Jahren bin ich nicht weggekommen von hier.«
    Bagradian wandte den Kopf zur Tür: »Was sind wir für ein Volk, daß wir alles schweigend hinnehmen?«
    »Hinnehmen?« Der Arzt kostete das Wort aus: »Ihr Jungen wißt nichts mehr vom Hinnehmen. Ihr seid in anderen Zeiten groß geworden.«
    Gabriel aber blieb bei seiner Frage:
    »Was sind wir für ein Volk?«
    »Du, liebes Kind, hast dein Leben in Europa zugebracht. Und auch ich, wäre ich damals nur in Wien geblieben! Es ist mein großes Unglück, daß ich nicht in Wien geblieben bin. Aus mir hätte vielleicht etwas werden können. Aber siehst du, dein Großvater war der gleiche Narr wie dein Bruder und hat von der Welt dort draußen nichts wissen wollen. Ich habe mich schriftlich verpflichten müssen, zurückzukommen. Das war mein Unglück. Besser wärs gewesen, er hätte mich nie fortgeschickt …«
    »Man kann nicht immer nur als Fremder unter Fremden leben.«
    Der Pariser Gabriel wunderte sich über seine Worte. Altouni lachte heiser:
    »Und hier, hier kann man leben? Wo das Ungewisse immer hinter uns her ist? Du hast es dir wohl anders zusammengeträumt.«
    Da ging es Bagradian durch den Kopf: Irgendwelche Vorbereitungen müssen getroffen werden. Altouni aber legte seine Tasche auf den Stuhl zurück:
    »Verflucht! Was für Sachen reden wir da? Du ziehst heute die alten Geschichten aus mir heraus. Ich bin Mediziner und hab niemals besonders stark an Gott geglaubt. Und doch habe ich früher deshalb mit Gott oft und oft gehadert. Man kann Russe sein und Türke und Hottentotte und Gottweißwas, aber Armenier kann man nicht sein. Armenier sein ist eine Unmöglichkeit …«
    Er riß sich mit einem Ruck von dem Abgrund los, an dessen Rand er geraten

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