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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Koloraturen, manchmal ein ödes, schmerzverschlafenes Nicken derselben zwei Töne, endlos, manchmal ein schrilles Aufbegehren, und dies alles nicht etwa frei und der willkürlichen Eingebung folgend, sondern gesetzmäßig und überliefert von jeher. Nicht jede der Sängerinnen besaß die altbewährte Kunst und Stimme Nuniks. Es gab unter ihnen auch mäßige und daher eigennützige Künstlerinnen, deren Gedanken sich während der Arbeit ausschließlich mit dem Geldbeutel der Hinterbliebenen befaßten. Was nützten denn dem reichsten Manne hier oben seine Pfunde und Piaster? Beschenkte er aber das Bettelvolk in verschwenderischer Weise, so vollbrachte er nicht nur ein gottgefälliges, sondern auch ein nützliches Werk. Die Klageweiber, die Blinden und die anderen Ausgeschlossenen waren in der Lage, die klingenden Piaster auch in den mohammedanischen Dörfern aufs beste umzusetzen, ohne daß ihnen ein Leid geschah. Auf diese Weise ging das Armeniergeld nicht zugrunde, sondern kam armen armenischen Seelen zugute, womit sich der Wohltäter billigen Kaufes ein himmlisches Verdienst erwarb. Zwischen den einzelnen Gesängen wurde Nunik von ihren Kolleginnen aufgefordert, mit all ihrer Beredsamkeit diesen logischen Standpunkt zu vertreten und den altgewohnten Preis für die Totenklage wesentlich zu heben. Im Morgengrauen erschienen die Angehörigen und brachten die langen feingewebten Leichenhemden. Dies war kostbarer Familienbesitz, der bei keiner Ortsveränderung zurückbleiben durfte. Die Hemden, in denen der Mensch dereinst je aufersteht, Festkleider sondergleichen also, machten die Familienmitglieder einander an den feierlichsten Tagen des Lebens zum Geschenk. Der Auftrag, ein solches Hemd zu nähen, galt als eine ganz besondere Ehre, die nur den würdigsten Frauen der Verwandtschaft zukam.
    Das Geheul der Klageweiber war nun zu einem leisen und verinnerlichten Säuseln zusammengesunken. Es begleitete die Zeremonie der Waschung und Einkleidung wie ein trostloser Trost. Zuletzt wurden die langen Hemden unter den Füßen mit einem doppelten Knoten zugeknüpft. Die Gebeine sollten dadurch vor Zerstreuung geschützt werden, auf daß der letzte Sturm, der die Knochen der zu richtenden Menschheit zusammengefügt, keine Ungelegenheit habe, die richtigen ineinander zu passen. Gegen Mittag waren die Gräber ausgehoben und alles zur Bestattung fertig. Auf sechzehn aus starken Ästen zusammengebundenen Bahren wurden die Gefallenen dreimal um den Altar getragen, während Ter Haigasun die Totengesänge anstimmte. Nachher sprach er auf dem Begräbnisplatz einige Worte zu dem Volke:
    »Diese lieben Brüder hat der blutige Tod uns entrissen. Und doch müssen wir Gott, dem Vater, dem Sohn, dem heiligen Geist, inbrünstig für die unverdiente Gnade danken, daß sie im Kampfe, in der höchsten Freiheit sterben durften und unter den Ihrigen hier in der Erde ruhen werden. Ja, noch besitzen wir die Gnade eines freien und eigenen Todes. Und darum müssen wir, um die Gnade, in der wir leben, richtig zu erkennen, immer und immer wieder an die Hunderttausende denken, denen diese Gnade entzogen ist, die in der schändlichsten Sklaverei sterben, die unbestattet in den Straßengräben und auf den weiten Steppen faulen oder von den Geiern und Hyänen gefressen werden. Wenn wir die Kuppe zu unsrer rechten Hand hier besteigen und nach Osten blicken, so haben wir das unendliche Leichenfeld unsres Volkes vor Augen, wo es keine geweihte Erde, kein Grab, keinen Priester, keine Einsegnung gibt und nur die Hoffnung auf das letzte Gericht. So lasset uns denn in dieser Stunde, während wir diese Glücklichen in die Erde senken, des wahren Unglücks bewußt sein, das nicht hier, sondern dort draußen liegt!«
    Diese kurze Ansprache holte ein tiefes Aufstöhnen aus der Brust des Lagervolkes, das sich vollzählig versammelt hatte. Dann trat Ter Haigasun zu den Butten mit der heimatlichen Totenerde. Sechzehnmal schöpfte er daraus und schüttete ein Häuflein unter den Kopf jedes Gefallenen. Man sah es seiner bedächtigen Hand an, wie sie mit dieser kostbaren Erde immer zögernder geizte.

Drittes Kapitel Die Prozession des Feuers
    Nunik, Wartuk, Manuschak, den Klageweibern, lachte neues Berufsglück.
    Ehe sie noch die Trauerfarbe mit Lattich vom Gesichte reiben konnten, rief sie ihr andres Amt, das gegensätzliche. Wenn die Wehen der Frau recht lange währten, und das hofften sie zuversichtlich, fielen für sie wohl zwei Mahlzeiten ab. Sie hatten überdies in der

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