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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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diese braven, zum Militär gepreßten Bauern nicht lange erst Deckung, sondern stürzten in kopfloser Flucht davon, in den Wald hinein, weit, weit fort, auf Nimmerwiedersehen. Haik jagte ihnen die fünf Kugeln seines Magazins nach. Keine traf, wie Meister Stephan verächtlich feststellen konnte. Die Haubitzen, die Protzen, die Munitionswagen, die Geschoßverschläge, die Karabiner, die Zugtiere blieben verlassen zurück. So rächte ein vierzehnjähriger Knabe mit fünf Patronen die millionenfache Ausrottung seines Stammes an harmlosen, zu den Waffen gezwungenen Bauern, an den Unrechten also, wie es ja der Krieg und die Rache immer mit sich bringen.
     
    Als die Posten in der tiefen Mondstille der Nacht die Schüsse im Norden scharf hintereinander fallen hörten, weckten sie die Führer. Die Jungen aber, die im Felsgebiet der Ihrigen warteten, packte wilde Angst. Sie fühlten sich verantwortlich. Laut rufend und fuchtelnd stürzten sie hervor. Hagop aber hüpfte mit seiner erbitterten Gelenkigkeit zu Gabriel Bagradian, der sich, noch vom Schlaf verwirrt, erhoben hatte. Der Einbeinige deutete verzweifelt auf die Gegenhöhe und schrie immerfort: »Haik und Stephan! Sie sind dort! Stephan und Haik!« Gabriel begriff das Geschehene nicht. Er wußte nur, daß Stephan in Gefahr sei. Wie ein Rasender jagte er in die angegebene Richtung. Hundert Männer aber packten ihre Gewehre und rannten dem Führer nach. Tschausch Nurhan Elleon war natürlich darunter. Als Bagradian, bei der Geschützstellung angelangt, die Gefallenen sah und Stephan unverletzt, da riß er den Sohn mit schmerzhaftem Griff an sich, als wollte er ihn noch nachträglich schützen. Die anderen aber befiel lähmende Bestürzung. Keiner beachtete die jungen Helden und Eroberer der Geschütze, die über der Beschäftigung mit dem stahlbronzenen Riesenspielzeug die gefahrdrohende Zeit und Wirklichkeit, ja selbst den blutigen Tod ringsum vergessen hatten. Die atemlosen Armenier standen eine Weile erstarrt. Zu groß war der unglaubwürdige Eindruck, zu atemberaubend der Triumph dieser Beute, als daß jemand sich Zeit genommen hätte, nach dem Kampf zu fragen. Nur rasch die Geschütze bergen, ehe die Türken zurückkommen! Die Aussichten der Verteidigung schnellten gewaltig empor. Zweihundert Arme tauchten an. Die Gespanne, die Protzen, die Munitionswagen wurden auf die Höhe getrieben und die Haubitzen an die Protzen gehängt. Jeder einzelne schob mit, riß an den Strängen oder griff in die Speichen. Die Fahrt rasselte über den weglosen, zerschrundeten Bergrücken, aber die Nacht löste Stock und Stein, die Härte aller Hindernisse in weiche Nachgiebigkeiten auf. Manchmal schien es, als schwebten unter der begeisterten Kraft der zupackenden Arme die Lafetten hoch über dem Boden.
    Keine drei halben Stunden vergingen und die Haubitzen waren, trotz der unglaublichen Bodenhindernisse, dort in Stellung gebracht, wo Gabriel Bagradian sie haben wollte. Er hatte sich die Tat Stephans kurz berichten lassen. Der Schreck aber, der in seinem Herzen noch nachzitterte, verschloß seinen Mund. Er konnte den Sohn nicht beloben. Der verwegene Handstreich auf eigene Faust gab seiner Überzeugung nach nicht nur den Halbwüchsigen, sondern auch den Zehnerschaften ein gefährliches Beispiel. Wenn jeder die Lust bekam, sein eigenes Heldenstückchen zu spielen, so ging die einheitliche Befehlsgebung und Disziplin auf dem Damlajik zum Teufel, jene beiden Mächte, die einzig und allein das Leben des Volkes für einige Zeit noch verbürgen konnten. Noch tiefer aber saß die Sorge um Stephan selbst. Zweimal hatte ihn ein übergnädiges Schicksal aus halsbrecherischen Wagnissen, die er selbst nicht zu begreifen schien, heil zurückgeführt. Der Junge war gewiß nicht bei Sinnen. Und auf dem Dreizeltplatz einsperren konnte man ihn nicht. Gabriel Bagradian aber gab sich diesen Gedanken nicht hin, denn jetzt erfüllten die Geschütze gänzlich seinen Geist. Er kannte die Type dieser Feldhaubitzen genau, denn er hatte während des Balkankrieges bei einer Batterie dieser Art gedient. Es waren österreichisch-ungarische 10-cm-Feldhaubitzen, Muster 1899, der Türkei von den Skodawerken geliefert. In dem Munitionswagen des zweiten Geschützes befanden sich noch dreißig Geschosse in den Verschlägen. Gabriel sah alles, was er brauchte, und an dessen Gebrauch er sich noch leidlich erinnerte: Die Richtapparate für verdecktes Schießen, eine Feuerinstruktion und Schußtabellen im Lafettenkasten. Er

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