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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ihren Decken lagen, und daß die Schmerzensschreie der Verwundeten sich stets nur steigerten, wenn der dumme Hekim Altouni die Wunden mit braunem Wasser bestrich. Die lebendige Zeitung der Bergbewohner und des Gräbervolkes konnte heute in groß aufgetanen Neuigkeiten schwelgen und sich ihre Lebensberechtigung für viele Tage vorausverdienen. Wenn Sato die Bedürfnisse ihrer Kunden bediente und sich Liebkind fühlte, schienen sich ihre Pupillen in auf und abschwellende Lichtschlitze zu verwandeln und ihre kehligen Wortbrocken verkündeten erregt und selbstbeglückt die Sensationen. Die Friedhofsleute hörten es gerne, die alte Manuschak, die alte Wartuk, und Nunik, die Älteste von allen, wenn man ihrs glaubte. Sie nickten verständnisinnig. Ein großes Selbstbewußtsein kam über sie. Nicht waren sie mehr überflüssig und verworfen, nein, sie hatten ein Amt, unangefochten und seit Menschengedenken von ihnen ausgeübt. Sechzehn Tote lagen oben auf dem Damlajik. Die Toten brauchten sie. Sobald sie aber ihres Amtes walteten, hatten ihre Erzfeinde unterm Volk, Bedros Altouni und die anderen Aufklärer, ihre Macht wider sie verloren und durften keine der Klagefrauen von der Stelle weisen.
    Und Nunik und Wartuk und Manuschak und eine Anzahl andrer Bettlerinnen noch begaben sich mit dem bedachtsam würdigen Schritt von beamteten Wesen zu ihren Wohnhöhlen, die im Umkreis des Friedhofes lagen. Sie zerrten ihre vollgestopften, schmutzstarrenden Säcke hervor, auf denen sie sonst die verlausten Häupter zu betten pflegten. Was im Abgrund dieser Säcke in dichter und dauerhafter Verwesung faulte, das zu beschreiben fehlen die Begriffe. Es war erlesenes Zeug, im wahrsten Sinne des Wortes vom Boden erlesenes Zeug, seit einem halben Jahrhundert. Die Sammelwut der alten und armen Weiber in aller Welt, das Aufbewahren vermotteten Trödels, das Zusammenscharren schimmligen Abfalls, der eifersüchtig gehütete Bettelschatz von Lumpen und Moder, hier war er zu einer wahren Orgie des Stinkend-Zwecklosen ausgeartet. Und doch, siehe da, diese Altweibersäcke schienen neben Stoffresten, Flicken, leeren Schachteln, steinharten Brot- und Käserinden auch das Handwerkzeug von Nunik, Wartuk, Manuschak zu enthalten. Jede von ihnen zog das gleiche mit dem ersten Griff aus ihrem unerschöpflichen Sack: Einen langen grauen Schleier und einen Tiegel voll fetter Salbe. Sie hockten sich hin und begannen ihre Gesichter anzuschmieren wie Schauspieler. Es war eine dunkelviolette Schminke, die ihre ausgefahrenen Runzeln füllte und die beinahe unglaubwürdigen Altersgesichter in zeitlos erhabene Larven verwandelte. Insbesondere Nunik mit ihrer Lupusnase und dem starken Gebiß, das aus der dunklen lippenlosen Maske hervorfletschte, machte ihrem romantischen Ruf als ahasverische Heilkünstlerin volle Ehre. Sie brauchten lange zu ihrem Schminkwerk. Plötzlich aber unterbrachen sie ihre Zurüstungen und bliesen hastig den Kerzenstumpf und den Docht im ranzigen Ölnapf aus, den sie vor sich stehen hatten. Hufschlag und Stimmen zogen vorüber. Dies war der Augenblick, in dem der Bimbaschi mit seinem Stab gegen Suedja ritt. Als der Lärm in Habibli-Holzdorf verschwunden war, erhoben sich die Weiber, hüllten ihre zausigen Grauköpfe in die Schleier, nahmen jedes einen langen Stock in die Hand und machten sich in ihren zerrissenen Klapper-Pantoffeln auf den Weg. Sonderbar weit griffen ihre dürren braunen Greisenbeine aus. Sato folgte ihnen, durch den großartigen Anblick eingeschüchtert. Wie sie schweigend an ihren Stöcken im halben Mond dahinschritten, fehlte den Klageweibern nicht viel zu Chorgestalten der antiken Tragödie.
    Wie unverwüstlich war die Lebenskraft dieser armenischen Hexen, wie stark ihr Herz! Nicht einer ging der Atem schneller, als sie nach dem steilen Aufstieg durch die Steineichenschlucht auf dem Begräbnisplatz des Lagers ankamen. Die violetten Klageweiber waren hinreichend bei Kräften, um sofort an die Arbeit zu gehen. Nunik, Wartuk, Manuschak und die andern hockten sich zu den Toten. Ihre schmutzigen Klauen enthüllten die schon erstarrten Gesichter. Und dann hub an ihr Gesang, älter vielleicht als die ältesten Lieder der Menschheit. Der Text bestand nur aus dem Namen des jeweiligen Toten. Er wurde ohne Unterbrechung wiederholt, bis der letzte Stern sich im ergrünenden Himmel löste. So arm der Text war, so reich veränderte sich die Melodie. Manchmal wars nur ein langes gleichlautendes Stöhnen, manchmal eine Kette heulender

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