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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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richtigen Annahme, daß sich unter fünftausend Menschen jederzeit alles Menschliche ereignen könne, in den mürben Falten ihrer Kleider das Notwendigste mitgenommen: Sevsamith, den schwarzen Fenchelsamen, etwas Schwalbenmist, das Schwanzhaar eines roten Pferdes und dergleichen Arzneimittel mehr.
    Noch bevor sich die Erde des Damlajik über den Toten geschlossen hatte, begannen Howsannahs Wehen. Nur Iskuhi war bei ihr im Zelt, da sich alle anderen zur Totenfeier begeben hatten. Das Mädchen konnte wegen seines Gebrechens der Schwägerin nur ungenügenden Beistand leisten. Es gab keinen Sitz mit Rückenlehne, gegen den sich die Kreißende hätte stützen können. Die untergeschobenen Kissen reichten nicht aus, um ihr Halt zu bieten, und auch die Bettstatt besaß nur einen leeren Eisenrahmen. Da setzte sich Iskuhi mit dem Rücken zu Howsannah, damit die gequälte Frau sich gegen ihren Leib stemmen könne. Doch Iskuhi war zu zart, um den mächtigen Druck der Gebärenden auszuhalten. Wie krampfhaft sie sich auch an den Bettrahmen festklammerte, sie klappte zusammen. Howsannah Tomasian aber stieß einen kurzen Schrei aus. Dieser erklang als Signal für Nunik. Die Klagefrauen hatte ihr scharfer Instinkt von der Feier fortgezogen. Ihr Werk war getan und das überraschend hohe Entgelt eingescheffelt. Nuniks Beweisführung schien auf die Trauernden ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Die wohltätigen Metalliks sollten auf dem Damlajik nicht verrosten, sondern den Armen und Elenden des Volkes zu Hilfe kommen. Einige unter den milden Gebern hatten bei Nuniks Notschilderung eine zwinkernde Grimasse gezogen. Es ging nämlich die Sage, daß nicht allein Nunik mit der abgefressenen Nase, sondern auch die kleine fette Manuschak eine heimliche Millionärin sei. Die Heuchlerinnen sollten nicht nur einen Schatz von Paras, Piastern und Metalliks, sondern ganze Töpfe voll ausgewachsener Medjidjeh-Taler, ja dicke Pfundnoten-Bündel auf dem Friedhof begraben halten. Wegen dieser geheimnisvollen Kapitalien kam es auch von Zeit zu Zeit auf dem Friedhof von Yoghonoluk zu regelrechten Bettlerschlachten, die Ter Haigasun meist durch die Drohung geschlichtet hatte, er werde das ganze Gelichter erbarmungslos von dem entweihten Totenort seiner unverschämten Lebensgier verjagen. Die Millionärinnen aber jammerten bei jeder Gelegenheit nach echter Millionärsart, daß sie gezwungen seien, unermüdlich ihrem Verdienste nachzugehen, um für ihre alten Tage nicht verloren zu sein. Unter diesen alten Tagen des wohlerworbenen Ruhestands schienen sie eine übermenschlich hohe Ziffer zu verstehen. War die fette Manuschak und die zänkische Wartuk der nackten Gewinnsucht ergeben, so hatte man in Nunik eine Berufene zu bewundern, die außer dem Geschäftsgeiste auch noch anderen Geistern diente. Sie witterte mit ihrer entstellten Nase in der Luft. Nein! Im Laubhüttenlager gab es nichts. Hier war die Stunde der Schwangeren noch nicht gekommen. Nur ein paar kleine Kinder plärrten. Steif ausgestreckt lagen die schnellatmenden Verwundeten vor dem Lazarettschuppen. Doch in der warmen, himmelsklaren Luft stand ein leichtes Zittern, das Nunik genau kannte, das immer über jenem Orte erschien, wo eine Menschenseele ins Leben treten sollte. Diesem Zittern ging die Führerin nach und kam bald mit Wartuk und Manuschak auf den Dreizeltplatz. Als sie Howsannah Tomasians Schrei im Zelte hörten, sahen sich die Kolleginnen mit nickendem Einverständnis an. So wenig der echte Musikkenner die Melodien der einzelnen Meister miteinander verwechselt, ebensowenig verwechselten sie die Eigenart der menschlichen Schreie. Der Schrei einer Gebärenden hatte sein eigenes Gesetz, ganz bestimmte Schwellungen, Höhepunkte, Pausen, Abstürze. Nicht anders auch hatte der Schrei, eines Verbrannten, der Schrei eines tödlich Verfolgten sein besonderes Gesetz. Das Ohr wußte die Wahrheit. Die Nase wußte die Wahrheit. Am ehesten noch ließ das Auge sich täuschen.
    Iskuhi wollte gerade aufbrechen, um Mairik Antaram zu suchen, als die drei Parzen ohne Anmeldung sich in das Zelt drückten. Im Dunkel glühte das regungslose Violett ihrer Gesichter auf. Die beiden Frauen Tomasian waren sprachlos. Doch sie erschraken nicht über die Erscheinungen – wer in Yoghonoluk kannte diese Altweiber nicht –, sondern über den Totenpomp, den sie noch nicht abgelegt hatten. Nunik, die den abergläubischen Sinn dieses Erschreckens sogleich erfaßte, beruhigte die Frauen:
    »Töchterchen, es ist

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