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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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rief seine alten Kenntnisse ins Gedächtnis zurück, berechnete die Entfernung nach Bitias, suchte die Position des türkischen Nachtlagers genau zu ermitteln, schraubte am Aufsatz, um die angenommene Seitenrichtung festzulegen, zog die Höhe seines Standortes in Betracht, elevierte die Geschützrohre mit dem kleinen Rad, bis die Libelle der Wasserwaage ins Gleichgewicht kam, dann erst klappte er die Verschlüsse auf, tempierte zwei Granaten mit dem Schlüssel, schob die Geschoßzylinder ins Rohr und drückte die Kartuschen nach. Sehr lange brauchte seine ungeübte Hand zu diesem Werk, bei dem ihm nur Tschausch Nurhan in sehr bescheidenem Grade helfen konnte. Beim ersten Morgenstrahl kontrollierte Bagradian alle Richtelemente noch einmal, dann knieten er und Nurhan, jeder nach Vorschrift, zur Seite ihrer Haubitze, die Zündschnur in der Hand. Der kurze schreckliche Knall, Schlag auf Schlag, zerfetzte die Luft. Rückfahrend bohrte sich der Sporn der Geschütze tief in die Erde. Weitab von Bagradians Ziel gingen die schlechtgelenkten Schrapnells irgendwo über dem Tale nieder. Schon das bloße Ereignis genügte, um das ganze mohammedanische Land von dem neuen Christensieg, von dem Verluste der türkischen Artillerie, von der Uneinnehmbarkeit des Damlajik und von der offenkundigen Tatsache in Kenntnis zu setzen, daß die Armeniersöhne einen Pakt mit den fernhin bekannten Dschinns, den bösen Geistern des Musa Dagh geschlossen hatten. Die Tschettehs waren noch im Laufe der Nacht verschwunden und ein Teil der Saptiehs, die nicht in diese Nahijeh gehörten, mit ihnen. Der dürftige Rest der Kompagnien aber war überzeugt, daß auch der Angriff einer ganzen Division auf den Teufelsberg aussichtslos bleiben würde. Der Bimbaschi hätte einen neuen Angriffsbefehl nicht wagen dürfen, ohne eine Meuterei der jungen Mannschaft heraufzubeschwören. Er dachte auch gar nicht an eine solche Vermessenheit, sondern an eine weit kleinlautere Frage: Waren die langen Züge mit den Toten- und Verwundetenwagen unbemerkt nach Antakje gekommen, wie er es ausdrücklich befohlen hatte? Das Gesicht des alten Mannes war aschgrau. Nach zwei schlaflosen Nächten und den Aufregungen des Kampfes konnte er sich kaum mehr auf seinem Pferde aufrecht halten. Sein Untergang war besiegelt. Des Bimbaschi tief herabgemindertes Denkvermögen, das in guten Tagen schon allzubequem war, konnte auf kein Mittel verfallen, den gottverfluchten Kaimakam samt allen Beamtenfüchsen, die an der Armenierschmach schuld waren, mit in den Untergang zu reißen.
    Die beiden gewaltigen Donnerschläge in nächster Nähe wirkten in der Stadtmulde wie dröhnende Signale des göttlichen Heils. Selbst die Härtesten und Verschlossensten umarmten einander und weinten. »Vielleicht will Christus unsre Rettung doch!« Der morgendliche Lichtgruß hatte noch niemals so von innen erleuchtet geklungen. – Was die Bagradians anlangt, schien nun, doppelt bekräftigt, ihr Königsrang für immer festzustehen. Zu Gabriel kamen einige Männer und baten ihn um die Erlaubnis, seinem Sohne Stephan den Heldentitel »Elleon« verleihen zu dürfen. Gabriel Bagradian lehnte nicht ohne leichte Heftigkeit ab. Sein Sohn sei noch ein Kind, das von Gefahr keine Vorstellung habe. Er wünsche nicht, Stephan eitel zu machen und ihn dadurch zu neuen Wahnsinnstaten anzueifern, die einmal ein entsetzliches Ende nehmen könnten. Durch die Strenge seines Vaters kam Stephan daher um die öffentliche Anerkennung. Er mußte sich mit der kleinen Münze des Lobes begnügen, die ihm in den nächsten Tagen überall zuteil wurde. In späterer Zeit schrieben die armenischen Chronisten, die über die Schlachten auf dem Damlajik berichteten, nur über »die Heldentat eines jugendlichen Schützen«, ohne den Namen zu nennen. Doch was hätte dem Bagradiansohn selbst der namentlichste Nachruhm genützt?
    Gabriel Bagradian war längst ein andrer, und nicht minder Stephan Bagradian. Ungestraft treiben weichgeborene Menschen das blutige Handwerk nicht, und wären sie auch zehntausendmal im Recht. Auf des Knaben feine Stirn hatte irgend ein wüster Gott des Musa Dagh sein dunkles Insiegel gepreßt.
    In der großen Nacht dieses vierzehnten August hatte sich noch etwas andres, wenn auch weit weniger Denkwürdiges zugetragen. Sato war noch im Laufe des Abends auf dämmernden Schleichwegen zu ihren Freunden im Tal gestoßen. Sie sollten den Hergang der Schlacht erfahren, sie sollten hören, daß sechzehn Tote auf der Erde unter

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