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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ausgaben, da jeder ein Mausergewehr und Munition besaß, da man ferner die Verluste ersetzen mußte, nahm er alle Zuzügler an. Unter ihnen befand sich auch ein sehr junger Mann, der einen verwirrten und benommenen Eindruck machte. Er behauptete, erst vor vier Tagen aus einer Infanteriekaserne von Aleppo geflohen zu sein und den beschwerlichen Fußmarsch schlecht überstanden zu haben. Am Abend bereits erschien der junge Mensch totenblaß im Lazarett bei Bedros Hekim und brach, nachdem er Unverständliches gelallt hatte, bewußtlos zusammen. Der Arzt ließ ihn sogleich entkleiden. Den Körper des armen Burschen schüttelte ein rasendes Fieber. Seine Brust war mit kleinen roten Punkten besät, die sich über Nacht noch vermehrten. Bedros Altouni hatte seit langer Zeit wieder das entfremdete Handbuch vorgenommen. Aber die Hieroglyphen waren für ihn nicht leserlicher geworden. Jetzt wollte er die Französin zu Rate ziehen und zeigte auf den Kranken:
    »Sehen Sie diesen da an, meine Liebe! Was halten Sie davon?«
    Juliette war kein Wesen, das sich an Graus und Elend gewöhnen konnte. Jedesmal, wenn sie den Lazarettraum betrat, hatte sie mit dem Erbrechen zu kämpfen. Sie gab sich Mühe, sie griff überall zu, dennoch wurde der Abscheu und Ekel immer heftiger anstatt gelinder. In dieser Sekunde aber kam eine ganz unverständliche Exaltation über sie. Es war ihr, als müsse sie hier auf der Stelle ihren Verrat sühnen. Der grindige, übelriechende Mensch, der zu ihren Füßen mit schaumbedecktem Mund in bewußtlosem Fieber zuckte, war Gabriel und Stephan in einer Person. Juliette kniete hin und näherte – als falle sie selbst langsam in Ohnmacht – ihren Kopf mit geschlossenen Augen der eingefallenen Brust des Kranken.
    Erst Gonzagues Stimme fuhr ihr ins Herz und weckte sie:
    »Was tun Sie da, Juliette? Das ist doch Unsinn …«
    Daraufhin schien auch der alte Arzt Madame Bagradians wegen Gewissensbisse zu bekommen:
    »Es wäre vielleicht wirklich besser für Sie, wenn Sie sich jetzt weniger fleißig bei uns aufhielten …«
    Gonzague zwinkerte ihr heimlich zu. Gehorsam folgte sie ihm. Auch in bezug auf Gonzague war für Juliette die Zeit ganz und gar durcheinander gerüttelt. Wann war es geschehen? In welcher Vergangenheit? Seit wann folgte sie ihm wehrlos, wenn er rief? Wie schwer und dick war der Verrat und das Schweigen schon geworden! Gonzague aber hatte sich nicht verändert. Dieselbe dichte Aufmerksamkeit seiner Blicke und Gedanken, die keine unbewachte Fuge frei ließ. Das Lagerleben hatte seiner Erscheinung noch immer nichts angehabt, sein Scheitel blieb zu jeder Stunde tadellos gezogen, sein Rock peinlich sauber gebürstet, sein Körper rein, seine Haut hell, sein Atem appetitlich. Liebte sie ihn? Es war etwas viel Schrecklicheres! Unglückliche Liebe ahnt immer einen Weg, wenn auch nur im Traum. Dies hier war weglos. Gonzague schien oft noch weniger vorhanden zu sein als Gabriel. Anfangs etwas Angenehmes, etwas Heimisch-Trautes, etwas in der Welt Verirrtes, das Mitgefühl erweckte, hatte er sich in eine grausame Unentrinnbarkeit verwandelt, gegen die es keine Hilfe gab. Wenn er sie berührte, empfand sie, was sie nie empfunden hatte. Doch mit dieser Empfindung wuchs auch der Selbsthaß der Verräterin. Schon waren manche baumumhegte und umbuschte Einöden auf der Meeresseite zu mitwissenden Orten geworden. Mit dem letzten Aufgebot ihres Stolzes spürte Juliette: Ich, hier auf der Erde, ich …? Gonzague aber verstand es immer wieder, alles Häßliche auszuschalten. Vielleicht war er ein Genie der Einseitigkeit, wie es Spieler, Sammler, Jäger sind, die ebenfalls nur eine einzige Neigung und Begabung übermäßig ausgebildet haben. Mit diesen Leuten teilte er auch die zielstrebige und unerschöpfliche Geduld. Sie hatte Gonzague auf den Damlajik geführt und ihn mit sicherer Bescheidenheit seinen Tag erwarten lassen. Sein gesammeltes Wesen erweckte in Juliette ein Gegenwesen der Zerfahrenheit und Willenslähmung. Oft kam über sie eine wuchernde Geistesabwesenheit. Mit widerwärtig pelzigen Blättern rankte in ihr ein inneres Geschehen, das allgemach dem Licht jeden Zutritt verwehren wollte. Sie saßen auf einem der Ruheplätze, die sie untereinander »die Riviera« nannten. Gonzague teilte seine Zigarette in zwei Hälften und zündete die eine umständlich an:
    »Ich habe nur noch fünfzig Stück …« Und als ob er dem sorgenvollen Gedanken wegen des ausgehenden Tabaks damit eine beruhigende Wirkung

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