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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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geben wollte: »Nun, wir werden bald nicht mehr hier sitzen …«
    Sie sah ihn entgeistert an. Seine Stimme blieb lässig:
    »Ich meine, wir werden beide davongehen, du und ich! Es wird Zeit!«
    Sie schien ihn noch immer nicht zu verstehen. Da setzte er ihr seinen Plan mit der trockensten Genauigkeit auseinander. Nur die ersten zwei Stunden seien ein bißchen beschwerlich. Eine kleine Bergpartie, weiter nichts. Man müsse ein Stück auf dem Felsgrat nach Süden klettern, um rechts von dem kleinen Dorf Habaste die Orontesebene und die Straße nach Suedja zu erreichen. Er habe die gestrige Nacht dazu benützt, diesen Weg zu rekognoszieren und sei ungeschoren, ohne einem Menschen zu begegnen, in das Geviert der Spiritusfabrik und in die Wohnung des Direktors gelangt, der, wie Juliette ja wisse, ein Grieche und eine einflußreiche Persönlichkeit sei. Er staunte, wie einfach und natürlich sich der ganze Plan erweise:
    »Der Direktor stellt sich uns vollkommen zur Verfügung. Am sechsundzwanzigsten August geht der kleine Küstendampfer der Fabrik mit einer Warenladung nach Beirût ab. Nach zwei kleinen Zwischenlandungen in Latakijeh und Tripoli soll er fahrplanmäßig am neunundzwanzigsten in Beirût eintreffen. Der Dampfer fährt unter amerikanischer Flagge. Es handelt sich ja auch um eine amerikanische Fabrikgesellschaft. Der Direktor behauptet, daß nicht die geringste Gefahr vorhanden sei, da die Zypernflotte in diesen Tagen wieder ausläuft. Du wirst eine eigene Kabine haben, Juliette. Wenn wir in Beirût sind, hast du das Spiel gewonnen. Alles weitere ist eine Geldfrage. Und Geld besitzt du ja …« Ihre Augen wurden ganz schwarz:
    »Und Gabriel und Stephan …?«
    Gonzague blies angelegentlich eine Aschenflocke von seinem Anzug: »Gabriel und Stephan? Sie sind weithin erkennbar Armenier. Ich habe den Direktor auch ihretwegen gefragt. Er lehnt es ab, für einen Armenier irgend etwas zu tun. Da er mit der türkischen Regierung sehr gut steht, darf er sich in dieser Sache nicht exponieren. Er hat mir das genau erklärt. Gabriel Bagradian und Stephan kann leider nicht geholfen werden …«
    Juliette rückte von seiner Seite ab.
    »Und ich soll mir helfen lassen … Von dir …«
    Gonzague schüttelte leicht den Kopf, als könne er die übertriebenen Skrupel der Frau nicht nachfühlen:
    »Er selbst wollte dich doch fortschicken, bitte, erinnere dich nur, Juliette. Und zwar mit mir!«
    Sie krampfte die Fäuste an ihre Schläfen:
    »Ja, er wollte mich und Stephan fortschicken … Und ich habe ihm das angetan … Und ich belüge ihn …«
    »Du sollst ihn ja gar nicht belügen, Juliette. Ich bin der letzte, der das von dir verlangt. Im Gegenteil! Du sollst ihm die ganze Wahrheit sagen. Am besten noch heute.«
    Juliette sprang auf. Ihre Züge waren rot und gedunsen:
    »Was? Ich soll ihn ermorden? Das Schicksal von fünftausend Menschen liegt auf ihm. Und in dieser Zeit soll ich ihn ermorden?«
    »Diese großen Worte verdrehen alles«, sagte Gonzague sehr ernst und blieb sitzen: »Man bringt zumeist fremde Leute um. Das erleben wir täglich. Manchmal aber müssen wir uns auch zwischen unserem eigenen Leben und dem unserer sogenannten Nächsten entscheiden … Ist Gabriel Bagradian überhaupt noch dein Nächster? Und wirst du ihn wirklich damit ermorden, daß du dich rettest, Juliette?«
    Seine ruhigen Worte und seine so selbstgewissen Augen zogen sie wieder an seine Seite. Gonzague ergiff Juliettens Hand und entwickelte ihr mit klarer Lehrhaftigkeit seine Philosophie. Jeder besitzt ein einmaliges und einziges Leben. Verpflichtungen hat er nur gegen dieses Leben zu erfüllen, sonst gegen niemanden und nichts. Woraus aber besteht das Leben, seiner wahren Natur nach? Aus einer langen Kette von Wünschen und Begierden. Mögen diese oft auch nur eingebildet sein, wichtig allein ist, daß sie stark sind. Man muß dem Leben seine Wünsche und Begierden rücksichtslos erfüllen, dies ist sein einziger Sinn. Deshalb nimmt man Gefahren auf sich und setzt sich sogar dem Tode aus, da es ja außerhalb des Strebens nach Befriedigung unserer Wünsche gar kein Leben gibt. Gonzague führte sich selbst als Beispiel für diese einzig logische und aufrichtige Verhaltensweise an. Er habe nicht einen Augenblick gezögert, um seiner Liebe willen Gefahren und eine sehr unbehagliche Existenz auf sich zu nehmen. Dann zog er den verächtlichen Schluß:
    »Alles aber, was du für Schonung, Liebe und Aufopferung hältst, Juliette, ist nichts

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