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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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als bequeme Angst.«
    Ihr Kopf fiel schwer gegen seine Schulter. Rauschend wuchs wieder einmal die quälende Geistesabwesenheit in ihr auf:
    »Du bist so ordentlich, Gonzague. Sei nicht so entsetzlich klar und ordentlich, Gonzague! Ich halte das nicht aus. Warum bist du nicht so, wie du früher warst …?«
    Seine leichte Hand, ein Wunder zärtlicher Erweckungen, fuhr streichelnd an ihrem Arm, ihrer Brust, ihrer Hüfte hinab. Sie brach in ein lallendes Weinen aus. Gonzague tröstete sie:
    »Du hast noch Zeit, Juliette, dich zu entscheiden. Sieben lange Tage. Freilich, wer weiß, was bis dahin geschehen wird …?«
     
    Ter Haigasun hatte nach längerer Pause den großen Führerrat einberufen. Die Männer saßen auf den langen Bänken im Sitzungsraum der Regierungsbaracke. Nur Apotheker Krikor hörte, wie es seine Gewohnheit war, den Beratungen in seiner Schlafkammer zu, ohne sich auch nur mit einem Wort an ihnen zu beteiligen. Es hatte den Anschein, als ob der Weise zum Zwecke seiner inneren Vollendung den Verkehr mit Menschen fast zur Gänze abgeschworen habe. Er sprach beinahe mit niemandem andern mehr als mit sich selbst, dies freilich in ausgiebigem Maße in den einsamsten Stunden der Nacht. Ein Zeuge dieser Selbstgespräche wäre aus ihnen ganz und gar nicht klug geworden. Krikor reihte nämlich großartige lexikalische Begriffe in beziehungslosem Gänsemarsch träumerisch aneinander. Folgendermaßen etwa: »Brennender Erdkern … Himmelsachse … Plejadenschwarm … Blütenbefruchtung …« Diese herrlichen Worte schienen Krikors Seele über sich selbst zu erheben und sie dem Urgrund aller Dinge näher zu bringen. Er warf sie in die Luft, sie blieben über ihm in Schwebe. Er baute aus ihnen ein Kuppelgewölbe von glitzerndem Wissenschafts-Mosaik, in dessen Mitte er mit dem verinnerlichten Lächeln eines buddhistischen Priesters saß. Es gibt eine Stufe des vollkommenen, des asketischen Reichtums, der sich nicht mehr mitzuteilen vermag, weil alles Erhabene asozial ist. Diese Stufe hatte Krikor vielleicht erreicht. Er belehrte die Menschen nicht mehr. Seine ehemaligen Jünger, die Lehrer, blieben aus, und auch er fragte nicht nach ihnen. Die eitlen Zeiten waren vorüber, da er auf nächtlichen Spaziergängen vor den Oskanians, Schatakhians, Asajans und anderen Staubfressern die Welten der Sterne mit den willkürlichen Zahlen und Namen seines unendlichkeitslüsternen Geistes gebannt hatte. Nun kreisten die riesigen Sterne und Worte still in seinem Innern, und er empfand kein prickelndes Bedürfnis mehr, von ihnen begeisterte Kunde zu geben. Apotheker Krikor konnte kaum eine Stunde schlafen. Von Tag zu Tag wütender krampfte ein grausamer Schmerz seine Sehnen und Gelenke zusammen. Als Bedros Altouni, den Körperverfall seines Freundes bemerkend, ihm die ärztliche Frage stellte, bekam er die triumphierende lateinische Antwort: »Rheumatismus articulorum et musculorum.« Kein einziges Mal kam eine Klage über Krikors Lippen. Die Krankheit war ihm gesandt, die Allmacht des Geistes zu bewähren. Sie hatte eine andere Folge noch. Um ihn herum wurde alles stumpf. Sausend entfernte sich die Wirklichkeit von ihm. Während heute zum Beispiel die Männer zu Rate saßen, folgte er ihren Worten mit den gespannten Augen und verständnislos nachahmenden Lippen eines Taubstummen. Es war, als könne er die alltäglichen Worte der Notdurft nicht mehr auffassen.
    Die Beratung währte diesmal stundenlang. Abseits saßen Awakian und der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk, um die wichtigsten Beschlüsse als Schriftführer festzuhalten und in Form zu bringen. Vor der Regierungsbaracke hatte die Lagerwache Aufstellung genommen. Eine persönliche Anordnung Ter Haigasuns! Da der Priester ein dekorativen Gebärden abgeneigter Mann war, durfte man annehmen, daß er mit dieser Schutzmaßregel einen weitsichtigen Zweck verband. Wenn heute die Regierungswache auch keine andre Aufgabe zu versehen hatte, als dem Senat Störungen fernzuhalten und den Eintritt unbefugter Personen zu verhindern, so konnte doch einmal ein gefährlicher Tag kommen, da die Führerschaft einer Ordnungstruppe bedurfte. Ter Haigasun leitete den Rat mit halbgeschlossenen Augen und in fröstelnd müder Haltung wie immer. Den Bericht über die Ernährungslage, den der Priester zum ersten Punkt der Tagesordnung bestimmt hatte, legte Pastor Aram Tomasian als Haupt der inneren Verwaltung ab. Er entwarf ein genaues Bild. Nach dem Unglück mit dem Wolkenbruch habe der durch

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