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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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den Granatvolltreffer hervorgerufene Speicherbrand nicht nur die Reste des Mehls vernichtet, sondern die anderen Kostbarkeiten dazu: alles Öl, allen Wein, den Zucker, den Honig und, wenn man von Entbehrlichkeiten wie Tabak und Kaffee absieht, das unentbehrlichste von allen Dingen, das Salz. Man werde nur noch drei Tage lang das Fleisch salzen können. Was aber dieses Fleisch, dessen Genuß allen Mägen bereits widerstehe, selbst anbelangt, so nehme es in einem geradezu erschreckenden Maße ab. Die anwesenden Muchtars hätten eine Viehzählung durchgeführt und berechnet, daß der Herdenstand seit dem Aufbruch bereits um ein Drittel zusammengeschmolzen sei. So dürfe man nicht weiter wirtschaften, sonst stehe man in kurzer Zeit am Ende. Der Pastor gab das Wort an den Muchtar Thomas Kebussjan weiter, damit er den Zustand der Herden als Fachmann beschreibe. Kebussjan erhob sich, wackelte mit dem Kopf hin und her und sah mit seinen ungleichen Bauernaugen alle und niemanden an. Er begann mit einer beweglichen Klagelitanei über den Verlust seiner schönen Schafe, deren Aufzucht er seine unermüdliche Fürsorge jahrelang geweiht habe. Er erkenne seine lieben Tiere nicht wieder. In den goldenen Zeiten des früheren Lebens habe ein gutgewachsener Hammel 45 bis 50 Oka gewogen. Jetzt erreiche er kaum mehr das halbe Gewicht. Der Muchtar machte zwei Ursachen für diesen Rückgang verantwortlich. Die eine war mehr sentimentaler Natur. Die verfluchte Gemeinwirtschaft – er verkenne ja ihre Notwendigkeit nicht – schlage den Schafen schlecht an. Er verstehe seine Tiere. Sie magern ab, weil sie niemand mehr gehören, weil sie keinen Eigentümer spüren, der sich um ihr Wohl und Wehe kümmert. Die zweite Begründung aber war weniger politisch und einleuchtender. Die besten Triften innerhalb der Verteidigungsgrenzen, die nicht nur die Schafe und Ziegen, sondern auch noch die Esel zu ernähren hätten, seien ganz und gar abgeweidet. Das schlechtgefütterte Vieh könne sich nur wenig zähes Fleisch und gar kein Fett aneignen. Mit der Milch sehe es nicht besser aus. Sie fließe immer magerer, immer gehaltloser. Von Butter und Käse sei keine Rede mehr. Kebussjan kam mit trübsinnigem Klageton zu dem Schluß, daß man andre Weiden werde finden müssen, um den Zustand der Schafe zu bessern. Gegen diese Absicht wandte sich Gabriel Bagradian mit aller Schärfe. Man lebe nicht in Frieden und Fröhlichkeit, sondern bestenfalls in der Arche Noah mitten in einer Sintflut des Blutes. An Freizügigkeit von Mensch und Vieh sei nicht zu denken. Türkische Kundschafter umlauern den Verteidigungsring von allen Seiten. Die Herden außerhalb dieses Ringes, womöglich auf den nördlichen Höhen des Musa Dagh grasen zu lassen, bedeute ein Wagnis, für das niemand die Verantwortung übernehmen könne. Es müßten, zum Teufel, auch noch in den Lagergrenzen neue Weidegründe ausfindig gemacht werden. Man möge das Vieh auf die hohen Kuppen hinauftreiben. »Auf den Kuppen ist das Gras kurz und verbrannt«, mischte sich der Muchtar von Habibli in die Debatte, »das können nicht einmal Kamele fressen.« Bagradian ließ sich nicht beirren: »Besser wir haben mageres Fleisch als überhaupt keines!« Ter Haigasun stimmte der Warnung Bagradians zu und bat den Pastor, in seinem Bericht fortzufahren. Aram Tomasian kam auf die Brot-Entbehrung, auf die ungemischte Fleischkost und ihre Folgen zu sprechen. Aus hundert Gründen, nicht zuletzt um das Hinschwinden der Herden zu verhindern, sei es nötig, eiligst Abhilfe und Ersatz zu schaffen. An Beutezüge ins Tal könne nach der Neubesiedlung der Dörfer nicht mehr gedacht werden. Andrerseits werde ihm Bedros Altouni bestätigen, daß durch die Entbehrung gemischter Kost der Gesundheitszustand des Volkes schon gelitten habe. Man sehe immer häufiger fahle Gesichter und hinfällige Gestalten. Jeder hier habe ja auch an sich selbst in dieser Hinsicht unerfreuliche Erscheinungen beobachtet. Abwechslung in der Kost müsse auf jede Weise erzwungen werden. Und nun legte Aram Tomasian seinen Plan dar. Man habe bisher das Meer zu wenig in Betracht gezogen. Von gewissen Punkten der Steilseite aus sei die Klippenküste ganz leicht in einem halbstündigen Abstieg zu erreichen. Er selbst habe bei seinen Probegängen jüngst einen alten verfallenen Maultierpfad entdeckt, der sich ohne viele Mühe ausbauen lasse. Wozu besitze man berufsmäßige Straßenarbeiter unter den Männern des Volkes und den Deserteuren? Zwei Tage Arbeit,

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