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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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lenkte sie immer mehr von der süßen und ergebnisreichen Belauerung des ersten ab. Sie bekam freilich kaum einen Kuß zu sehen. Aber die Nicht-Küsse zwischen Gabriel und Iskuhi brannten sich tiefer in Sato ein als die vollkommenen Umarmungen Gonzagues und Juliettes. Wenn sie sich nur an der Hand faßten und kurz ansahen, um dann den Blick, wie erschüttert, rasch abzuwenden, so schien für Sato diese zarte Vereinigung restloser und aufreizender zu sein, als die andre, völlig nahe. Vor allem aber war die Gemeinschaft Iskuhis und Gabriels hassenswert und stimmte Sato traurig. Ihre Erinnerung log die Vorzeit golden um. War die Waisenhauslehrerin von Zeitun nicht immer gut und gnädig zu Sato gewesen? Hatte sie nicht ausdrücklich oft »meine Sato« gesagt? Hatte sie nicht ihrer Sato gestattet, zu ihren Füßen auf der Erde zu sitzen und diese Füße zu streicheln und zu liebkosen? Wer anders als der Effendi war schuld daran, daß dieses köstliche Verhältnis gegenseitiger Wertschätzung und Liebeserweisung ein hartes Ende genommen hatte? Wer anders als der Effendi war schuld daran, daß Iskuhi, wenn ihre Sato das verlangende Herz ihr entgegentrug, sie anherrschte: »Geh, Sato! Und laß dich nicht wieder blicken!?«
    Trübsinnig suchte die Vagabundin einen Platz, um nachzudenken. Aber gerade das Denken und Planen war Satos Sache nicht. Sie konnte ja nur schweifende Bilder erzeugen und unter jähen und blitzschnellen Empfindungen zusammenzucken. Diese Bilder und Empfindungen brauchten aber gar nicht die Mitwirkung eines ordnenden Verstandes. Sie arbeiten zielstrebig, so wie sie waren, sie knüpften Maschen, ließen sie fallen, nahmen sie wieder auf und brachten ein Gewebe der Rache zustande, von dem ihre Herrin so gut wie nichts wußte.
     
    Juliette war auf dem Wege zu Gabriel.
    Gabriel war auf dem Wege zu Juliette.
    Sie begegneten einander zwischen Dreizeltplatz und Nordsattel.
    »Ich bin auf dem Wege zu dir, Gabriel«, sagte sie. Und er wiederholte seinerseits dieses Sätzchen.
    Die Verstörung und Verlorenheit, die seit undenklicher Zeit schon die Fremde gefangen hielt, hatte ihr Werk vollendet. Wo war Juliettens »funkelnder Schritt«? Sie ging wie eine, die irgendwohin geschickt ist. Und es war wirklich so. Gonzague hatte sie geschickt, damit sie endlich die Wahrheit sage und ihren Willen kundgebe, denn der Tag der Trennung war gekommen. Bin ich kurzsichtig geworden, dachte sie, ich sehe so schlecht. Sie wunderte sich, daß in dieser sommerlichen Nachmittagsstunde Novemberdämmerung herrsche. War es der Qualmschleier des Waldbrandes, der über dem Damlajik lag? War es jener andre sonderbare Qualmschleier über ihrem eigenen Bewußtsein, der sich seit Tagen verdichtete? Sie wunderte sich, daß Gonzague jetzt, da sie vor Gabriel stand, lächerlich unwirklich geworden war. Sie wunderte sich, daß dieser Gonzague sich mit ihr belasten wollte. Alles erschien ihr so weit entrückt und so verwunderlich. Ihr Strumpfband hatte sich gelöst und der Strumpf rutschte ihr über das Knie, ein Gefühl, das sie verabscheute. Und doch, sie rührte sich nicht. Ich habe nicht einmal mehr die Kraft, mich zu bücken, ging es ihr durch den Sinn, und heute abend werde ich über die Felsen nach Suedja hinabklettern. Es kam dann zu einer recht merkwürdigen Unterredung zwischen den Gatten, die ganz und gar im leeren verlief. Juliette begann:
    »Ich mache mir Vorwürfe, daß ich in diesen Tagen nicht bei dir war … Du hast Schweres erlebt und Großes vollbracht und warst immer in Gefahr … Oh, ich benehme mich schändlich zu dir, mein Freund …«
    Ein derartiges Bekenntnis hätte Gabriel vor wenigen Wochen noch bewegt. Jetzt aber kam seine Gegenrede beinahe förmlich:
    »Auch ich habe mir um deinetwillen Vorwürfe gemacht, Juliette. Ich sollte mich mehr um dich kümmern. Aber glaub mir, ich habe gerade jetzt gar nicht an dich denken können.«
    Dies war eine große Wahrheit voll Doppelsinn. Sie hätte auch Juliette Mut zur Wahrheit machen müssen. Doch sie stimmte ihm nur eilig zu:
    »Das ist ja selbstverständlich. Ich sehe ein, daß du an ganz andre Dinge zu denken hattest, Gabriel.«
    Er bewegte sich auf diesem gefährlichen Wege weiter:
    »Ich habe glücklicherweise immer gewußt und mich darüber gefreut, daß du nicht ganz allein und verloren bist.«
    In dem stumpfen, gewissermaßen scheintoten Gespräch war damit ein Punkt erreicht, der den Blick nach allen Richtungen freiließ. Unglaublich schnell hätte für Juliette die

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