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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Wir wollen klar sein und uns nichts vormachen. Es geht nicht anders, Gabriel Bagradian muß in irgendeiner Form unterrichtet werden. Ich sage gar nicht, daß du große Konfessionen machen sollst. Die Gelegenheit ist da und kommt nicht wieder. Das erklärt alles. Du darfst nicht einfach verschwinden. Ganz abgesehen davon, daß es eine unmögliche Gemeinheit wäre, wie willst du denn leben, hast du es dir schon überlegt?«
    Und mit der sicheren Ruhe seiner Stimme und seines Wesens suchte er sie zu überzeugen, daß Gabriel Bagradian all jene Verfügungen treffen werde, die im Bereich seiner Möglichkeiten lägen, um ihr Leben für die nächste Zeit sicherzustellen. Aus seinen Worten tönte kein Hauch von Spekulation oder Roheit, obgleich der den Untergang Gabriels und vielleicht auch Stephans als unabwendbaren Posten in Rechnung stellte. (Was Juliettens Sohn anbetraf, so war er übrigens bereit, wenn sie es nicht anders wollte, auch diese Last auf sich zu nehmen, die freilich die Bedingungen der Flucht wesentlich erschwerte.) Am Ende seines Zuspruchs wurde er ungeduldig, denn wie oft schon hatte er dasselbe sagen müssen und die letzten Stunden der Galgenfrist gingen dahin. Wäre Juliette zu einem geordneten Denken fähig gewesen, sie hätte seinen scharfen umsichtigen Begründungen recht geben müssen. Aber das ging schon seit mehreren Tagen so, daß sich irgend ein gehörtes und gedachtes Wort in ihrem Gehirn lästig festsetzte und nicht auszurotten war. Jetzt hörte sie: »Wie willst du denn leben?« Die Laute »leben« begannen blechern unaufhörlich in ihrem Kopf zu kreisen, wie wenn auf einer abgespielten Grammophonplatte die Nadel in einer Rille hängen bleibt und dieselbe Stelle bis zum Rasendwerden immer wiederholt. Unbegreifliche Schauer stiegen aus dem Boden auf, als säße sie am Rand eines Sumpfes. Dann wurde sie selbst zu einer Maschine und wiederholte: Wie will ich denn leben? Wie will ich denn leben? In Beirût? Und wozu?«
    Gonzague hatte Mitleid mit Juliette, die sich, wie er wähnte, in Gewissensqualen wand. Er wollte ihr helfen:
    »Nimm es nicht zu schwer, Juliette! Sieh doch nur deine Rettung im Ganzen! Wenn du es willst, werde ich bei dir sein, wenn du es nicht willst, nicht …«
    In diesem Augenblick sah sie den kranken jungen Deserteur vor sich, über dessen grindige rotübersprenkelte Brust sie sich vor einigen Tagen in verzweifelter Exaltation gebeugt hatte. Dann aber wollte sie ihre Mutter besuchen. Diese wohnte im Hotel. Ein langer Gang mit Hunderten von Türen. Juliette kannte die richtige nicht … Gonzagues Stimme war lieb und zärtlich jetzt. Sie tat ihr wohl:
    »Ich werde bei dir sein.«
    »Wirst du bei mir sein? … Bist du jetzt bei mir? …«
    Er lenkte mit Freundlichkeit ins sachliche Gebiet hinüber:
    »Hör gut zu, Juliette! Ich werde heute nacht hier auf dich warten. Doch du mußt um zehn Uhr bereit sein. Solltest du mich vorher brauchen, sollte Bagradian mit mir sprechen wollen, ich nehme das an, so schicke jemanden um mich. Ich werde dir helfen. Du kannst ruhig eine große Reisetasche mitnehmen. Ich werde sie schon tragen. Wähl deine Sachen klug aus! In Beirût bekommst du übrigens alles, was dir fehlt.«
    Sie hatte sich bemüht, ihn zu verstehen. Wie ein Kind sagte sie das Gehörte auf:
    »Heute nacht um zehn … Ich bringe eine Reisetasche … In Beirût bekommt man alles … Und du? … Wie lange wirst du bei mir sein? …«
    Ihre wirren Reden in dieser entscheidenden Stunde erschöpften seine Ruhe:
    »Juliette, ich hasse Worte wie ›immer‹ und ›ewig‹.«
    Sie sah ihn begeistert an. Ihr Gesicht glühte. Der halbgeöffnete Mund wölbte sich vor. Ihr war, als sei sie jetzt durch die richtige Tür getreten. Gonzague saß am Klavier und spielte für sie die Matchiche in jener Nacht, ehe die Saptiehs kamen. Da hatte er es selbst gesagt: »Es gibt nur den Augenblick.« Eine tiefe Heiterkeit überströmte sie:
    »Nein, sag nicht ›immer‹ und ›ewig‹! Denk an den Augenblick …«
    Jetzt verstand sie in einer unbeschreiblichen Überdeutlichkeit, daß es nur den Augenblick gab, daß die Nacht, das Dampfschiff, die Reisetasche, Beirût, der Entschluß nicht die geringste Bedeutung mehr für sie hatten, daß eine uneinnehmbare Einsamkeit ihrer wartete, in die weder Gonzague noch Gabriel eindringen konnten, eine Einsamkeit voll Heimkehr, in der alles erledigt war. Dieses Glück durchdrang sie mit strömender Kraft. Gonzague sah mit Erstaunen nicht mehr die

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