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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Stoppelbart umrahmt, den sie so gar nicht leiden konnte. Immer wieder, wenn sie dieses Gesicht sah, mußte sie sich fragen: Wie, dieser wüste orientalische Bandenchef ist Gabriel Bagradian? Dann aber war seine Stimme doch Gabriels Stimme. Und schon um dieser alten Stimme willen hätte sie nicht wahr sein können. In ihren Ohren rauschte es: Ich werde bleiben, ich werde gehn, bleiben, gehn. Ihr Geist aber stöhnte: Wäre nur alles schon zu Ende!
    Das Gespräch glitt von der gefährlichen Bahn ab. Gabriel schilderte ihr die günstigen Aussichten der nächsten Tage. Man werde mit höchster Wahrscheinlichkeit eine längere Ruhepause genießen dürfen. Er wies noch einmal mit Nachdruck auf Doktor Altounis seelenverstehenden Rat hin: Im Bette liegen bleiben und lesen, lesen, lesen! Eine Rauchwolke des großen Brandes zerzog sich träge vor ihren Augen. Sie mußten den scharfen aber würzigen Holzqualm durchqueren. Gabriel blieb stehn:
    »Wie man das Harz riecht! … Der Brand ist aus vielen Gründen ein Glück. Auch wegen dieses Rauches. Er wirkt desinfizierend. Im Epidemie-Wäldchen liegen leider schon zwanzig Leute, die dieser verfluchte Deserteur aus Aleppo angesteckt hat …«
    Er konnte von nichts anderem mehr sprechen, als von öffentlichen Angelegenheiten. Nichts spürte der Gleichgültige von dem, was sie in ihrem Schweigen ihm zugetragen hatte. Ich werde gehn, ich werde gehn, dröhnte es mit Muschelrauschen wieder in ihrem Gehör. Als sie aber mitten in der Rauchwolke waren, verfärbte sich Juliette und wankte, so daß er sie auffangen mußte. Sein Griff, ihr so tausendfach bekannt, durchfuhr sie quälend. Sie wandte ihr Gesicht krampfhaft ab:
    »Gabriel, verzeih, aber ich glaube, ich werde krank … oder ich bin es schon …«
    Gonzague Maris wartete bereits auf dem vereinbarten Platz der Riviera. Er rauchte umsichtig und gesammelt seine halbe Zigarette zu Ende. Da er äußerst sparsam war, besaß er noch zwei- undzwanzig Zigaretten. Die Tabakreste warf er nicht fort, sondern hob sie für die Pfeife auf. Wie die meisten Menschen, die aus engen Verhältnissen, aus billigsten Internaten herkommen und trotz eleganter Bedürfnisse niemals mehr als zwei Anzüge auf einmal besessen haben, ging er mit allen Werten fanatisch sorgfältig um und nützte seine Habe bis zum letzten Faden, Bissen und Tropfen aus.
    Als Juliette sich mit merkwürdig strauchelnden Schritten näherte, sprang er auf wie immer. Seine galante Form der Geliebten gegenüber hatte sich durch den Besitz nicht verändert. Auch die helle Aufmerksamkeit seiner Augen unter den schräg gegeneinandergestellten Brauen war die gleiche geblieben, wenn auch ein Schimmer unbestechlicher Kritik sie verschärfte. Er erkannte ihre Niederlage sogleich:
    »Du hast wieder nicht gesprochen.«
    Sie ließ sich neben ihm nieder, ohne zu antworten. Was war nur mit ihren Augen geschehen? Auch in der nächsten Nähe schaukelte alles wie in einem lautlosen Sturm hin und her, oder war in Regenschleier gehüllt. Wenn aber der Nebel zerriß, wuchsen Palmen aus dem Meer. Kamele mit gekränkt erhobenen Häuptern zogen hintereinander über die Wellen. Nie noch war die Brandung tief unten so laut und so nahe gewesen. Man verstand sein eignes Wort nicht. Und Gonzagues Stimme kam aus weiter Ferne: »Das hilft alles nichts, Juliette! Du hast viele Tage Zeit gehabt. Der Dampfer wird nicht auf uns warten und der Direktor hilft uns ein zweites Mal auch nicht. In dieser Nacht müssen wir fort. Nimm doch endlich Vernunft an!«
    Sie preßte die Fäuste gegen die Brust und neigte sich vor, als müsse sie einen krampfartigen Schmerz bezwingen:
    »Warum redest du so kalt mit mir, Gonzague? Warum siehst du mich überhaupt nicht an? Sieh mich doch an!«
    Er tat das Gegenteil und sah weit hinaus, um sie seine Unzufriedenheit fühlen zu lassen:
    »Ich habe immer von dir geglaubt, daß du eine willensstarke und mutige Frau bist und nicht sentimental …«
    »Ich? Ich bin nicht mehr, was ich war. Ich bin schon tot. Laß mich hier! Geh allein!«
    Sie hatte seinen Protest erwartet. Er aber blieb stumm. Dieses Schweigen, mit dem sie so leicht aufgegeben wurde, konnte Juliette nicht länger ertragen. Sehr kleinlaut flüsterte sie:
    »Ich werde mit dir gehen … Heute nacht …«
    Jetzt erst legte er mit leichter Zärtlichkeit seine Hand auf ihr Knie:
    »Du mußt dich jetzt zusammennehmen, Juliette, und dein Schuldgefühl und alle andern Hindernisse überwinden. Mit einem Schnitt, das ist am besten.

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