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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Möglichkeit bestanden, offen zu sprechen: Ich bin die Fremde hier, Gabriel. Das armenische Schicksal war stärker als unsere Ehe. Jetzt zeigt sich ein allerletzter Ausweg für mich, diesem Schicksal zu entgehen. Du selbst hast es hundertmal gewollt und mir immer wieder den Antrag gestellt, mich zu retten. Ich habe gehofft, daß ich die Kraft haben werde, bis zum Ende auszuhalten. Ich habe diese Kraft nicht, ich kann sie ja gar nicht haben, da dein Kampf nicht mein Kampf ist. Es ist schon sehr viel, glaub es mir, mein Freund, daß ich dieses verzweifelte Leben bis zu dieser Stunde ausgehalten habe. Nun aber ist es genug. Laß mich gehn! – Denn ich gehöre nicht mehr dir, sondern einem andern. – Keines dieser einfachen und natürlichen Worte kam über Juliettens Lippen. Noch immer von dem eitlen Wahn erfüllt, in ihrer Ehe sei sie der gebende und höherstehende Teil, war sie überzeugt, daß Gabriel unter ihrem Geständnis zusammengebrochen wäre. Konnte sie annehmen, daß er ihr vielleicht mit gütiger Stimme geantwortet hätte: Ich verstehe dich, chérie. Selbst wenn ich daran zugrundeginge, dürfte ich dich nicht zurückhalten. Ich werde für dich alles tun, was noch in meiner Macht steht. Ich werde mich um deinetwillen auch von Stephan trennen, den du retten wirst. Es ist gut so, daß ich als verantwortlicher Führer dieses Volkes die letzten Bindungen verliere, die mich an ein privates Leben knüpfen. Und noch eines, Juliette! Ich liebe dich und werde dich bis zum letzten Augenblick lieben, wenn ich auch nicht mehr dir gehöre, sondern einer andern. – So rein hätte sich in diesen Minuten alles durch Offenheit lösen lassen, wären die Dinge nicht zu verwickelt gewesen, um überhaupt gelöst zu werden. Juliette wußte von Gabriel ebensowenig wie er von ihr. Sie wußte aber auch nicht, ob sie Gonzague wirklich liebe. Und ebensowenig wußte Gabriel, ob und was für eine Liebe das sei, die ihn mit Iskuhi verband. Juliettens religiöse und bürgerliche Vergangenheit sträubte sich gegen das sündige Glück. Aus vielen Gründen mißtraute sie dem so durchsichtig undurchsichtigen Gonzague, nicht zuletzt, weil er um drei Jahre jünger war als sie. In Paris hätte sich wohl eine traditionelle Form für alles gefunden, hier jedoch in den phantastischen Revieren des Damlajik lastete das Bewußtsein der Verworfenheit schwer auf ihr. Dies aber war nur ein kleiner Teil der Verwicklungen. Einige Minuten lang war sie völlig bereit, heute nacht mit Gonzague den Berg zu verlassen und in der Spiritusfabrik das Dampfschiff zu erwarten. In der nächsten Zeitspanne aber kam ihr dieser Gedanke lächerlich undurchführbar vor. Es gehörte mutigste Entschlossenheit dazu, sich einem Abenteurer rückhaltlos anzuvertrauen, selbst wenn man dadurch dem Tode entging. War es nicht ratsamer, sein Schicksal auf dem Musa Dagh untätig abzuwarten, als in Beirût plötzlich verlassen zu werden? Der Gedanke an die nächtliche Kletterei, an die gefahrvolle Durchquerung der mohammedanischen Orontes-Ebene, an die Seefahrt unter Spiritusfässern, an die Bedrohung durch Torpedoboote, der Gedanke an all diese Gefahren und Strapazen vermischte sich mit einer angesichts der Verhältnisse lächerlichen Stil-Empfindung: Das paßt nicht zu mir. Was war dies alles aber gegen die Pein Stephans wegen? Sie wich ihrem Kind jetzt aus. Sie überwachte nicht mehr seine Ernährung und Sauberkeit. Selbst am Abend kam sie nicht mehr, o heilige Muttergewohnheit, an sein Bett im Scheichzelt, um nachzusehen, ob er sich ordentlich zur Ruhe lege. All diese Versäumnisse summierten sich zu einem Schuldgefühl, das Stephan gegenüber am schwersten auf ihrem Herzen lastete. Und von all diesen Lasten beladen, war sie zu Gabriel gekommen, um offen zu sein und Abschied zu nehmen.
    Beide schauten einander an, Mann und Frau. Der Mann sah ein Gesicht, übernächtig und gealtert, wie es ihm schien. Er glaubte an den Schläfen einen weißlichen Schimmer zu entdecken. Umsoweniger aber konnte er sich die fiebernden Augen erklären und den größer gewordenen Mund mit den geschwollenen und zersprungenen Lippen. Sie geht an diesem Leben zugrunde, dachte er, anders war es nicht zu erwarten. Und wenn ihn noch vor kurzem das leise Bedürfnis angewandelt hatte, zu Juliette von Iskuhi zu sprechen, jetzt gab er es auf: Wozu? Wieviele Tage haben wir denn noch vor uns?
    Die Frau sah ein sehr zerfurchtes Gesicht, alle Formen und Züge fremd zusammengeschoben und von jenem runden

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