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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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entblößten Schultern, rechts und links die Hände ins Gras gekrampft. Sie starrte Gabriels Erscheinung wie eine Blinde an, die nicht mit den Augen, sondern mit allen anderen Sinnen sieht. Der Vorgang entwickelte sich stumm und fast ohne Geste. Gonzague, der sich einige Schritte weit zurückgezogen hatte, verfolgte ihn mit dem gewinnenden und genauen Lächeln eines Fechters. Die fremden Männer, Ter Haigasun zuvörderst, kehrten mit starren Mienen der Frau den Rücken zu, als sei es ihnen unmöglich, ihre eigene Scham noch länger zu ertragen. – Die Armeniersöhne der Gebirge zwischen Kaukasus und Libanon sind ein Volk von unerbittlicher Keuschheit. Kochendes Blut neigt immer zur Strenge und nur das laue ist nachsichtig. Kein Sakrament halten diese Christen so hoch wie das der Ehe und blicken deshalb mit Verachtung auf den Weiber-Mischmasch des Islams herab. – Diese Männer hier, die jetzt ihre Gesichter von der Schande abkehrten, wären wahrscheinlich Gabriel Bagradian nicht in den Arm gefallen, wenn er der Sache mit zwei Revolverschüssen ein rasches und radikales Ende bereitet hätte. Ter Haigasun nicht und Pastor Tomasian nicht, obgleich dieser drei Jahre lang in der Schweiz gelebt hatte. Hrand Oskanian aber neigte sich über sein Mausergewehr, ohne das er keinen Schritt machte. Es sah so aus, als richte der schwarze Lehrer den Lauf gegen seinen eigenen Mund und suche mit den Augen nur noch die praktischeste Möglichkeit, den Schuß zu lösen. Er hatte zu dieser symbolischen Gebärde guten Grund, da sich die Madonna seiner einzigen Anbetung in ihm für immer verunreinigt hatte.
    Die unzugänglichen Rücken der Männer warteten lange. Es geschah nichts. Kein Schuß aus Bagradians Armeepistole fiel. Als sie nach einer Weile ihre Köpfe wieder der Wirklichkeit zuwandten, sahen sie, daß Gabriel die kauernde Frau an den Händen faßte und ihr aufhalf. Juliette versuchte zu gehen, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht. Da stützte sie Gabriel Bagradian unter beiden Ellenbogen und führte sie zwischen den Myrtensträuchern hinweg, wie man ein Kind führt.
    Mit unversöhnten Augen verfolgten die Männer das Unglaubliche. Dann brummte Ter Haigasun zwei kurze Worte und langsam verließen sie, jeder für sich, die Stätte. Sato lief hinter dem Priester her, als habe sie von dem Oberhaupt des Volkes einen Lohn für ihre Nützlichkeit zu fordern.
    Kein Blick traf den Fremden mehr, der allein zurückblieb.
     
    Ein Volk kann ohne Bewunderung nicht auskommen, doch ebensowenig ohne Haß. Längst war auch in der Stadtmulde Haß fällig. Es fehlte nur das Ziel, gegen das er sich richten konnte. Der Haß gegen die Türken und den Staat? Der war zu überdimensional und folglich nur insoweit vorhanden, wie die Luft und der Raum vorhanden ist, als Voraussetzung des Lebens, die man nicht zur Kenntnis nimmt. Der Haß der engen Nachbarschaften? Wen konnten diese Reibereien des Alltags befriedigen? Nicht einmal die keifenden Weiber. Dies alles führte zu nichts anderem als zu kleinlichen Rechtsstreitigkeiten, die Ter Haigasun als Richter an jedem Freitag in schneller Prozeßfolge, ehe man sichs noch versah, durch ein Machtwort oder eine kleine Buße schon geschlichtet hatte. Ein andres Bett mußten sich jene Ströme der Verneinung graben, die sich trotz der blutigen Schlachten und harten Entbehrungen im Herzen der Gesellschaft angesammelt hatten. Es gehört aber zu den Geheimnissen des öffentlichen Lebens, daß der Zufall solchen konzentrierten Mißempfindungen der Masse immer ein entsprechendes Geschehnis prompt zur Verfügung stellt.
    Ehe die Männer jene peinliche Stätte verließen, hatte ihnen Ter Haigasun ein paar kurze Worte zugerufen. Diese Worte enthielten die strenge Mahnung, das Geschehene unbedingt geheim zu halten, denn der Priester ahnte nur zu genau die widrigen Folgen, sollte der Skandal zu Ohren des Lagervolkes kommen. Ter Haigasun hatte in seiner Mahnung mit Männern gerechnet, doch nicht mit Ehemännern. Muchtar Thomas Kebussjan war trotz allem großartigen und würdegetränkten Anschein, den er sich gab, ein hervorragender Pantoffelheld. Ein solches Erlebnis konnte er nicht bei sich tragen, ohne es mit seiner energischen und wissensdurstigen Madame zu teilen. Sein Bedürfnis, die Klatschgier der starkgemuten Ehehälfte bestens zu bedienen, ging so weit, daß er sogleich nach Hause stürzte, um seinen drückenden Schatz nach Entgegennahme von hundert Schweigebeteuerungen an die Frau zu bringen. Madame Kebussjan

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